16. Februar und 4. Mai 1919

 

Am 27. November 1918 beschließt die Provisorische Nationalversammlung ein neues Wahlrecht. Wahlberechtigt sind demnach alle österreichischen Staatsbürger – Männer und Frauen – nach Erreichung des 20. Lebensjahres. Die österreichische Frauenbewegung hat nach jahrzehntelangem Kampf um politische Gleichberechtigung eines ihrer wichtigsten Ziele erreicht.

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Österreich ist damit nach Finnland (1906), Norwegen (1913) und Dänemark (1915), und etwa zeitgleich mit Deutschland (30.11.1918), aber lange vor "alten Demokratien" wie Großbritannien (1928) oder Frankreich (1946) eines der ersten Länder Europas, das den Frauen das aktive und passive Wahlrecht auf nationaler Ebene gewährt.

Bei den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung – den ersten allgemeinen, freien und demokratischen Wahlen in Österreich – am 16. Februar 1919 können die Frauen von ihrem neuen Recht erstmals Gebrauch machen. Die Sozialdemokraten werden mit 1,2 Millionen Stimmen und 72 Mandaten stärkste Partei, etwa 5% vor den Christlichsozialen.

Die provisorische Regierung Renner tritt am 3. März zurück. Karl Seitz wird Erster Präsident der neuen Nationalversammlung und damit auch erstes Staatsoberhaupt der Republik. Renner bildet eine Koalitionsregierung mit den Christlichsozialen. Otto Bauer übernimmt das Außenamt, Ferdinand Hanusch die Soziale Verwaltung, Julius Deutsch das Heereswesen.

Am 4. Mai 1919 finden in Wien schließlich die ersten Gemeinderatswahlen nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht statt. Die Sozialdemokraten erringen einen fulminanten und in dieser Höhe nicht erwarteten Sieg und erhalten 100 der 165 zu vergebenden Mandate; die Christlichsozialen kommen auf 50, die Tschechoslowakische Partei auf 8, die Großdeutschen auf 4 und die Jüdisch-Nationalen auf 3 Sitze.

Von den 100 Mandaten der SDAP gehen 16 an Frauen, u.a. an Adelheid Popp, Anna Boschek, Gabriele Proft und Emmy Freundlich.

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Jakob Reumann wird zum ersten sozialdemokratischen Bürgermeister Wiens gewählt, und Wien damit die erste Millionstadt der Welt mit einer sozialdemokratisch geführten Verwaltung.
In Reumanns Amtszeit werden die Grundlagen des "Roten Wien" gelegt – der Beginn des kommunalen Wohnbaus, die Einleitung der großen Schul- und Sozialreformen und die ersten Schritte zur Schaffung von neuen Grünanlagen und modernen Freizeiteinrichtungen.

Am 10. Juni 1920 zerbricht die Koalition auf Bundesebene an der wenig bedeutenden Frage der Wahl von Heeresvertrauensmännern. Die im Juli gebildete Proporzregierung aus allen im Parlament vertretenen Parteien bereitet – nach der Annahme der Verfassung durch die Nationalversammlung am 1. Oktober – die ersten "echten" Nationalratswahlen am 17. Oktober 1920 vor.

Die Sozialdemokraten verlieren stark (von 40,8% auf 35,9%, 69 Mandate), die Christlichsozialen werden stimmen- und mandatsstärkste Partei (41,8%, 85 Mandate). Wenige Tage später gehen die Sozialdemokraten in die parlamentarische Opposition.

Am 1. Januar 1922 wird Wien schließlich endgültig von Niederösterreich abgetrennt und zum selbständigen Bundesland erhoben, was den Gestaltungsspielraum der sozialdemokratischen Stadtverwaltung trotz Nachkriegselend und bald darauf einsetzender Weltwirtschaftskrise deutlich erhöht. Nachfolger von Jakob Reumann, der sein Amt als Bürgermeister am 20.11.1923 aus Gesundheitsgründen zurücklegt, wird Karl Seitz.