14. bis 25. Mai 1907

 

Seit 1848 galt in Österreich das Zensuswahlrecht; wahlberechtigt waren grundsätzlich nur Männer, die entweder eine bestimmte Mindeststeuerleistung (10 Gulden) erbrachten oder bestimmten Berufsgruppen (Priester, höhere Beamte, Offiziere, Ärzte, Juristen, Professoren u.ä.) angehörten. Diese Wahlberechtigten waren in vier Gruppen – den sogenannten "Kurien" – mit abgestuftem Stimmengewicht eingeteilt, was dazu führte, dass im Jahre 1880 nur 3,5% der Wiener Bevölkerung überhaupt wahlberechtigt waren.

1882 wird die Mindeststeuerleistung auf 5 Gulden herabgesetzt, was nichts daran ändert, dass ein großer Teil der erwachsenen Bevölkerung weiterhin vom Wahlrecht ausgeschlossen bleibt. Der Kampf um das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht steht deshalb viele Jahre lang im Zentrum der politischen Aktivitäten der Sozialdemokratie.

1894 fordert der Parteitag der Sozialdemokraten die Errichtung einer fünften Kurie für alle Männer ab dem 24. Lebensjahr, die schreiben und lesen können, einer ständigen Beschäftigung nachgehen oder eine direkte Steuer bezahlen. Am 18. Oktober 1894 wird auf einer Massenversammlung das allgemeine Wahlrecht gefordert. Sicherheitsorgane gehen mit Gewalt gegen die Arbeiter vor; es gibt zahlreiche Verletzte und Verhaftungen.

TF_1_Mai_Wahlrechtsdemo_VGA2

1896 führt Ministerpräsident Kasimir Felix Badeni (1895–1897) eine Wahlrechtsreform durch. Die "Badenische Wahlreform" richtet eine fünfte, allgemeine Wählerkurie für alle über 24 Jahre alten männlichen Staatsbürger ein. Für die 5,5 Millionen Wahlberechtigten der allgemeinen Wählerklasse sind allerdings nur 72 von insgesamt 425 Mandaten reserviert – die 5.402 Großgrundbesitzer entsenden hingegen 85 Abgeordnete, die 583 Wähler der Handelskammern sogar 21.

Dennoch ermöglicht diese Minireform den Sozialdemokraten, bei den Wahlen vom 9. März 1897 mit insgesamt 14 Mandaten – allerdings keinem einzigen in Wien – erstmals in das Abgeordnetenhaus einzuziehen. Die bisher dominierenden Liberalen erleiden bei dieser Wahl eine schwere Niederlage, das Zeitalter der "Volksparteien" – neben den Sozialdemokraten sind auch die Christlichsozialen und die Deutschnationalen erfolgreich – beginnt.

Wahlrecht_Demo1905_TF_VGA2

Die folgenden Jahre sind von außergewöhnlicher politischer Instabilität – v.a. wegen des ständigen Nationalitätenstreits – und häufigen Regierungswechseln gekennzeichnet. Die meisten Ministerpräsidenten (sechs zwischen 1895 und 1900) regieren per Notverordnungen. Das allgemeine Wahlrecht bleibt eine der Hauptforderungen der Sozialdemokraten.

Ende 1905 verspricht der neue Ministerpräsident Freiherr von Gautsch die Vorlage einer weiteren Wahlrechtsreform. Am 28. November desselben Jahres kommt es in Wien zu einer machtvollen Demonstration für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, an der etwa 250.000 Arbeiter teilnehmen. Wenige Monate später scheitert die Regierung Gautsch an der Frage der Wahlrechtsreform.

Am 1. Dezember 1906 kann der neue Ministerpräsident Freiherr von Beck die Mehrheit der Abgeordneten für die Annahme des neuen Wahlgesetzes gewinnen. Das allgemeine Wahlrecht – allerdings nur für Männer –, von dem die Regierung sich eine Überwindung der nationalen Spannungen erhofft, ist damit Wirklichkeit.

Vom 14. bis 24. Mai 1907 finden schließlich die ersten allgemeinen Wahlen statt. Von den nunmehr 516 Sitzen erhalten die Sozialdemokraten als zweitstärkste Fraktion 87 Mandate.