Wahlrecht

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Ab 1848 galt in Österreich das Zensuswahlrecht; bis 1873 wurden die Mitglieder des Abgeordnetenhauses über die Landtage, dann direkt nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt. Wahlberechtigt waren grundsätzlich nur Männer, die entweder eine bestimmte Mindeststeuerleistung (10 Gulden) erbrachten oder bestimmten Berufsgruppen (Priester, höhere Beamte, Offiziere, Ärzte, Juristen, Professoren u.ä.) angehörten. Die Wahlberechtigten waren des weiteren in vier Gruppen – den sogenannten "Kurien" – mit abgestuftem Stimmengewicht eingeteilt, was dazu führte, dass im Jahre 1880 nur 3,5% der Wiener Bevölkerung überhaupt wahlberechtigt waren. Unter Ministerpräsident Eduard Taaffe (1879–1893) wurde diese Mindeststeuerleistung im Jahr 1882 auf 5 Gulden herabgesetzt. Ein großer Teil der erwachsenen Bevölkerung war damit allerdings immer noch vom Wahlrecht ausgeschlossen.

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Der Kampf um das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht stand deshalb viele Jahre lang im Zentrum der politischen Aktivitäten der Sozialdemokratie. 1894 forderte der Parteitag unter Androhung eines Generalstreiks die Errichtung einer fünften Kurie für alle Männer ab dem 24. Lebensjahr, die schreiben und lesen konnten, eine ständige Beschäftigung ausübten oder eine direkte Steuer bezahlten.

Ministerpräsident Kasimir Felix Badeni (1895–1897) führte 1896 eine weitere Wahlrechtsreform durch. Die "Badenische Wahlreform" schuf eine fünfte, allgemeine Wählerkurie für alle über 24 Jahre alten Staatsbürger, die es den Sozialdemokraten endlich ermöglichte, in das Abgeordnetenhaus einzuziehen. Bei den ersten Wahlen nach dem neuen Wahlrecht im Jahre 1897 entfielen auf die 5. Kurie 72 von 425 Mandaten, 5 davon in Wien. Die Sozialdemokraten erhielten insgesamt 14 Mandate, allerdings keines in Wien.

Erst bei der Reichsratswahl des Jahres 1901 erreichten die Sozialdemokraten auch in Wien zwei Mandate: Engelbert Pernerstorfer und Franz Schuhmeier zogen als erste Wiener Sozialdemokraten ins Parlament ein.

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Der Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht war damit allerdings noch lange nicht beendet. Unter dem Eindruck der Ereignisse in Russland, als die liberalen Kräfte von Zar Nikolaus II. die Einführung eines Parlaments erzwangen, kam es Ende Oktober, Anfang November 1905 auf der Ringstraße zu mehreren großen Demonstrationen für das allgemeine Wahlrecht. Nachdem die Partei neuerlich mit Generalstreik drohte und die Eisenbahner eine "passive Resistenz" begannen, die den gesamten Verkehr lahmlegte, versprach die Regierung am 4. November 1905 eine weitere Wahlrechtsreform.

Die ersten Reichsratswahlen nach allgemeinem Wahrecht – allerdings nur für Männer – fanden vom 14. bis 24. Mai 1907 statt. Die Sozialdemokraten gewannen 87 von 516 Sitzen; in Wien errangen sie mit 38,3% der Stimmen 10 von 33 Mandaten. Bei den Wahlen des Jahres 1911 erreichten die Sozialdemokraten nur noch 82 Sitze, in Wien erzielten sie mit 19 Mandaten und 42,9% der Stimmen allerdings erstmals die Mehrheit. Im Wiener Gemeinderat bestand das Kurienwahlrecht übrigens noch bis 1919.

1918 wurde das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für alle Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts endlich eingeführt. Bei der Wahl zur österreichischen Nationalversammlung am 16. Februar 1919 waren Frauen erstmals aktiv und passiv wahlberechtigt. 82% der 1,904.741 wahlberechtigten Frauen und 87% der 1,649.501 wahlberechtigten Männer nahmen ihr aktives Wahlrecht wahr.

Im Bundesverfassungsgesetz von 1920 erfolgte der Übergang zum Verhältniswahlrecht. Die Nationalratswahlordnung wurde in den Jahren 1929, 1949, 1970 und 1992 reformiert.

Literatur: Viktor Adler, Das allgemeine, gleiche direkte Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich, 1893; Aline Basel, Vergleich der Geschichte des Frauenwahlrechts in Österreich und in der Schweiz, 2001; Alexandra Frey, Sozialdemokratie und Wahlrechtsentwicklung 1867-1907, 1994; Karoline Hofmann, Das Wahlrecht in der Zweiten Republik im Diskurs der Parteien, 1995; Heinrich Neisser, Das Bundeswahlrecht: Gesetzesausgabe mit Erläuterungen und einer Sammlung der Judikatur, 1994; Peter Schöffer, Der Wahlrechtskampf der österreichischen Sozialdemokratie 1888,89-1897: vom Hainfelder Einigungsparteitag bis zur Wahlreform Badenis und zum Einzug der ersten Sozialdemokraten in den Reichsrat, 1986.