Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen, Karl Seitz
1896 erschien in der Arbeiter-Zeitung unter dem Titel "Was die Sozialdemokraten von der Kommune fordern!" ein erstes kommunales Programm. Darin hieß es u.a.: Die Kommune hat ihr Grundeigenthum [sic!] durch Erwerbung noch unverbauter Grundstücke in großem Maßstabe zu vermehren und darauf systematisch Häuser mit billigen Wohnungen zu errichten.
Die Errichtung dieser sogenannten "Superblocks" mit ihren integrierten, kollektiv nutzbaren Wohnfolgeeinrichtungen wie Zentralwaschhäusern, Kindergärten, Mutterberatungsstellen, Volksbibliotheken, Veranstaltungs- und Versammlungssälen, Werkstätten und Geschäftslokalen der Konsumgenossenschaft, war natürlich auch stark politisch motiviert und ermöglichte die Schaffung von rund 65.000 neuen Wohnungen innerhalb nur eines Jahrzehnts.
Zunächst waren freilich zwei Grundvoraussetzungen zu schaffen: der Erwerb einer ausreichenden Menge geeigneten Baugrundes und die Sicherstellung der Baufinanzierung, die wegen der galoppierenden Inflation zunächst kaum möglich schien.
Mit dem Gemeinderatsbeschluss vom 20. Januar 1923 über die Einführung einer zweckgebundenen Wohnbausteuer wurde schließlich der entscheidende Schritt gesetzt. Die Wohnbausteuer war zwar von allen Besitzern vermietbarer Räume zu entrichten, allerdings derart gestaffelt, dass die teuersten 0,5% der Objekte 44,5% der Gesamtleistung erbrachten!
1927 betrug der Anteil der Breitnerschen "Steuern auf Luxus und besonderen Aufwand" knapp 65 Millionen Schilling; das entsprach etwa 36% der Wiener Steuereinnahmen und 20% der Gesamteinnahmen der Stadt.
Die radikal progressive Besteuerung von Immobilieneigentum machte die Ausbeutung von Wohnraum unrentabel und führte in kurzer Zeit zur Zerschlagung des privaten Immobilienmarktes in Wien. Aufgrund der gesunkenen Grundstückspreise konnte die Gemeinde Wien nun eine Vielzahl von Grundstücken zu erschwinglichen Preisen erwerben – so etwa den sogenannten "Drasche-Gürtel" im Süden der Stadt, der von Meidling bis Kaiserebersdorf reichte, oder die "Frankl-Gründe".
Bis 1922 vergrößerte sich der Grundbesitz der Gemeinde Wien von 5.487 ha. auf 57.670 ha., und Anfang 1924 war die Stadt bereits größter Grundbesitzer und verfügte über 2,6 Millionen Quadratmeter Bauland. Insgesamt gab die Gemeinde Wien von 1923 bis 1931 66,8 Millionen Schilling für den Ankauf von Bauland aus.
Damit war nicht nur dem kommunalen Wohnbau gedient, sondern auch der Grundstückspekulation ein Riegel vorgeschoben. Mittels neu gegründeter gemeindeeigener Baustofflieferanten und Baufirmen, sowie durch die Funktionalisierung der kommunalen Verkehrsbetriebe als städtische Transportunternehmen wurde die Gemeinde Wien selbst zum Monopolunternehmen.
Da der private Wohnbau infolge des durch den Mieterschutz stark beeinträchtigten Zinsertrags ins Stocken geraten war und der kommunale Wohnbau eine außergewöhnliche Werbewirksamkeit zugunsten der Sozialdemokratie erzielte, agitierten das bürgerliche Lager und die konservative Presse mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen.
1932 trat Finanzstadtrat Breitner nach jahrelangen, zermürbenden Hetzkampagnen zurück; ihm folgte Robert Danneberg. Das kommunale Wohnbauprogramm wurde auch unter den neuen, weitaus ungünstigeren Bedingungen fortgesetzt. Als der Austrofaschismus 1934 die Demokratie zerschlug, gab es in Wien beinahe 65.000 Gemeindewohnungen.
Die insgesamt 382 während der Ersten Republik errichteten Gemeindebauten wurden von nicht weniger als 199 verschiedenen Architekten geplant. Dennoch setzte sich ein unverkennbarer Stil durch – trotz individueller und zeitbedingt "modischer" Unterschiede erkennt man die Wiener Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit "auf den ersten Blick".
Besonders charakteristisch für die großen Wohnhöfe sind ihre expressive Architektur und das Vorhandensein gemeinschaftlicher Sozialeinrichtungen (Waschküchen, Badehäuser, Kindergärten, Lebensmittelgeschäfte, Bildungseinrichtungen, Fürsorge- und Gesundheitseinrichtungen, Arztpraxen etc.), die eine eigene, autarke Infrastruktur bildeten.
Diese gemeinsamen Waschhäuser waren technisch gut ausgerüstet, wurden von einem eigenen Maschinisten betrieben und sollten es den Familien nach Vorstellung der Planer ermöglichen, mit nur einem Waschtag pro Monat die gesamte Wäsche des Haushaltes zu waschen, zu trocknen und zu bügeln.
In den Wohnanlagen sorgten großzügige Hofräume für ausreichend Licht, frische Luft und Bewegungsraum. Die niedrigen Grundstückskosten und die Vermietung der Wohnungen zu den Selbstkosten der Gemeinde ließen einen wesentlich geringeren Bebauungsgrad zu, als es im privaten Wohnbau jemals profitabel gewesen wäre.
Anstelle der vorgeschriebenen 20% erhöhte sich die Fläche der Innenhöfe bei den Wohnblocks des "Roten Wien" auf mindestens 50% und erreichte in einigen Fällen sogar bis zu 80% der gesamten Grundstücksfläche.
Die einzelnen Stiegenhäuser, die zu den Wohnungen führen, wurden nun nicht mehr von der Straße aus erschlossen, sondern von diesen begrünten und besonnten Innenhöfen, die mit dem öffentlichen Straßenraum nur durch ein oder mehrere große Tore verbunden waren.
Die gleichzeitige Umorientierung der Wohnungen zu den Innenhöfen ermöglichte zudem die bessere Kontrolle der in gesichertem Territorium spielenden Kinder und signalisierte gleichzeitig die Abkehr von der Straße, dem traditionellen Milieu der Proletarier.
Auch die Wohnungen selbst wurden "revolutioniert": Alle Räume waren direkt beleuchtet und belüftet, jede Wohnung erhielt einen Vorraum zum Stiegenhaus, und fast alle Wohnungen besaßen Balkons, Erker oder Loggien, sowie fließendes Wasser und WC.
Stilistisch entstand zwar kein eigener "proletarischer Architekturkanon", es gab allerdings eine klare Absage an die "Verlogenheit" der Scheinfassaden an den Zinshäusern der Jahrhundertwende.
Nach dem Februar 1934 kam der kommunale Wohnbau praktisch zum Erliegen. Bei den bereits bestehenden Gemeindebauten wurden zwar einige Umbenennungen durchgeführt, zu systematischen Neubenennungen kam es allerdings nicht.
"Wilden", d.h. offiziell nicht sanktionierten Umbenennungen – der Indianerhof wurde "Emil-Fey-Hof", der Karl-Marx-Hof für einige Zeit "Biedermann-Hof" benannt –, standen nur wenige "amtliche" Neubenennungen gegenüber: Offiziell hieß der Karl-Marx-Hof nun "Heiligenstädter-Hof", und der Matteottihof wurde nach einem 1920 in Bologna erschossenen Faschisten "Giordani-Hof" genannt. Erst 1935/36 wurden viele Namensschilder – mit Ausnahme der "unverfänglichen" – abmontiert.
Nach Kriegsende waren zunächst die ungeheuren Schäden zu beseitigen, die der Krieg auch an den Wohngebäuden der Stadt hinterlassen hatte. Jede sechste Gemeindewohnung war zerstört oder unbenützbar. Mit der aus Ziegelschuttbeton errichteten Per-Albin-Hansson-Siedlung -West nahm die Gemeinde Wien ihre Wohnbautätigkeit bereits 1947 wieder auf.
Dieser kommunale Wohnhaustyp der Wiederaufbauzeit wird heute, angesichts des gewachsenen Wohlstands, wegen der Wohnungsgrundrisse, aber auch wegen der Dürftigkeit der Fassadengestaltung ("Emmentalerarchitektur") häufig kritisiert; es darf dabei allerdings nicht vergessen werden, dass die Schaffung von möglichst viel Wohnraum in kurzer Zeit im Vordergrund stand.
In den Jahren 1951 bis 1970 wurden auf diese Weise 96.000 Wohneinheiten geschaffen, zuerst in konventioneller, später in Fertigteilbauweise (Großfeldsiedlung ab 1965).
Die frühen 1970er Jahre waren noch von der Suche nach identifikationsstiftenden Großwohnanlagen, wie z.B. der Siedlung Am Schöpfwerk (1967 bis 1973) geprägt.
Da die soziale Problematik solcher großdimensionierter Anlagen bald erkannt wurde und der drückende Wohnungsbedarf nachließ, verlagerte sich der kommunale Wohnbau in den folgenden Jahren immer mehr in Richtung Baulückenschließungen, Stadterneuerungsprojekte und verdichteten Flachbau.
Heute steht der kommunale Wohnbau, der die Zahl von 200.000 Wohnungen längst überschritten hat, vor neuen Herausforderungen.
Durch die architektonisch anspruchsvollere und großzügigere Bauweise, nicht zuletzt aber auch wegen der rapid gestiegenen Bau- und Grundstückskosten, stiegen auch die Mieten, weshalb es manchmal schwer fällt, weiterhin von "sozialem Wohnbau" zu sprechen.
Wegen der rückläufigen Bevölkerungsentwicklung und des relativ saturierten Wohnungsmarktes stehen die Altstadterneuerung und technologisch sowie gesellschaftspolitisch innovative Projekte nun im Mittelpunkt des baulichen Geschehens.
Trotz dieses allmählichen Paradigmenwechsels sollte nicht vergessen werden, wie sehr Wien durch den sozialen Wohnbau erneuert und verändert worden ist. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Um 1910 standen im Arbeiterbezirk Ottakring den 177.000 Einwohnern nur knapp 40.000 Wohnungen zur Verfügung. 1984 gab es für nur noch 88.000 Einwohner insgesamt 53.253 Wohnungen.
Heute lebt etwa jeder vierte Wiener in einem Gemeindebau. Die Stadt Wien besitzt rund 220.000 Gemeindewohnungen und ist damit die mit Abstand größte Hausverwaltung Europas. Jährlich werden in Wien etwa 10.000 Gemeindewohnungen neu vergeben. Seit 1994 hat die Stadt Wien beinahe 5 Milliarden Euro in den Wohnbau investiert; zwischen 1994 und 2005 wurden 2.522 kommunale Wohnbauten mit 122.000 Wohnungen renoviert und auf modernen Standard gebracht. Die Sanierungskosten betrugen 2,9 Milliarden Euro.
Im Jahr 2004 wurde in der Rößlergasse in Liesing der zunächst letzte Wiener Gemeindebau errichtet. Im Wahlkampf zur Landtags- und Gemeinderatswahl 2015 kündigte Bürgermeister Michael Häupl die Errichtung weiterer Gemeindebauten an, 2019 wurde mit dem Barbara-Prammer-Hof in der Favoritner Fontanastraße der erste Gemeindebau Neu fertiggestellt.
Mehr zum Thema "Kommunaler Wohnbau und Folgeeinrichtungen" erfährt man in der Dauerausstellung zur Geschichte des Roten Wien im Waschsalon Karl-Marx-Hof.
Literatur: Eve Blau, The architecture of Red Vienna, 1919-1934, 1999; Erich Bramhas, Der Wiener Gemeindebau. Vom Karl-Marx-Hof zum Hundertwasserhaus, 1987. Hans und Rudolf Hautmann, Die Gemeindebauten des Roten Wien 1919-1934, 1980; Karl Honey, Die Wohnungspolitik der Gemeinde Wien, 1926; Albert Lichtblau, Wiener Wohnungspolitik 1892-1919, 1984; Inge Podbrecky, Rotes Wien, 2003; Ursula Schwarz, Die Benennung der Wiener Gemeindebauten von 1919-1945, 1992; dies., Die Benennung der Wiener Gemeindebauten von 1945-1993, 1995; Helmut Weihsmann, Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919-1934, 1985/2002; Walter Zednicek, Architektur des Roten Wien, 2009; Eve Blau, Rotes Wien: Architektur 1919-1934, 2014.