Ich hatte immer Angst, unwissend zu sterben.
Therese Eckstein war die Tochter eines jüdischen Papierfabrikanten. Prägend für die junge Therese war jedoch ihre Mutter, die nach dem frühen Tod des Mannes die Leitung der Pergamentfabrik im fünften Bezirk übernahm und somit zur Ernährerin der Familie wurde. Eine schillernde Figur war auch Thereses belesener Bruder Friedrich Eckstein, über den Karl Kraus einmal scherzhaft meinte, der Brockhaus steige nachts aus dem Regal, um in Eckstein etwas nachzuschlagen. Ihr Bruder Gustav Eckstein zählte zu den führenden Austromarxisten.
Der elterliche Betrieb, in dem sich übrigens eine der ersten Schulküchen Wiens befand, gewährte Therese Eckstein einen genauen Einblick in die herrschenden sozialen Missstände. Da sie als Frau nicht studieren durfte, nahm sie zunächst Privatunterricht und bildete sich auch im Selbststudium weiter. 1888 heiratete sie den Bankbeamten Viktor Schlesinger, der jedoch kurz nach der Hochzeit an Tuberkulose starb; Therese Schlesinger selbst litt zeitlebens unter den Folgen des Kindbettfiebers, an dem sie bei der Geburt ihrer Tochter Anna im Jahr 1890 erkrankt war.
Hilfe und Unterstützung erhielt sie in dieser schwierigen Zeit durch ihre Freundinnen Marie Lang und Auguste Fickert. Bald darauf begann sie sich auch selbst in der bürgerlichen Frauenbewegung zu engagieren und wurde Mitglied im Allgemeinen österreichischen Frauenverein und im Lese- und Diskutierclub Libertas. Als Publizistin forderte sie in der "Volksstimme" die Zulassung von Frauen zum Hochschulstudium, die Verbesserung des Arbeitsschutzes für Frauen, v.a. aber die Einführung des Frauenwahlrechts.
Als Mitglied der Enquetekommission "Zur Lage der Wiener Arbeiterinnen" lernte Schlesinger 1896 Adelheid Popp, Anna Boschek und Victor Adler kennen; ein Jahr später trat sie der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Im Rahmen ihrer politischen Arbeit hielt sie zahlreiche Vorträge und publizierte Artikel und Aufsätze in der Arbeiter-Zeitung, in Die Unzufriedene, in Der Kampf, aber auch in der Berliner "Neuen Zeit".
1902 zählte sie zu den Mitgründerinnen des Vereins sozialdemokratischer Frauen und Mädchen. Als am 19. März 1911 der erste Frauentag abgehalten wurde, übernahm Therese Schlesinger dessen Vorsitz. Zur Feier des Tages hatte sie ein – von ihr selbst als sehr pathetisch bezeichnetes – "Frauenwahlrechtslied" gedichtet:
Ihr Männer stehet uns zur Seite.
Heraus, wer Sozialist sich nennt!
Wir helfen euch in eurem Streite,
Wenn er auch noch so heiß entbrennt.
Nun müsst ihr eure Hilf' uns leih'n,
Soll uns der Preis gewonnen sein.
Während des Ersten Weltkriegs war Therese Schlesinger eine der führenden Persönlichkeiten des "linken Flügels" um Friedrich Adler und später um Otto Bauer, die an der Spitze des Kampfes gegen den Krieg standen. Als 1918 das aktive und passive Wahlrecht für Frauen durchgesetzt wurde, gab Schlesinger mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen gemeinsam mit Adelheid Popp das Wochenblatt "Die Wählerin" heraus, und gehörte 1919 zu den ersten Frauen, die als sozialdemokratische Mandatarinnen ins Parlament gewählt wurden.
Schlesinger gehörte von 1919 bis 1923 der Konstituierenden Nationalversammlung und dem Nationalrat, danach bis 1930 dem Bundesrat an. Aus ihrer Feder stammten auch jene Teile des Linzer Programms der Sozialdemokraten, die sich auf die Frauenfrage bezogen.
Nach dem "Anschluss" Österreichs flüchtete sie vor den Nationalsozialisten nach Frankreich, wo sich Marianne Pollak und andere im Exil lebende Freunde ihrer annahmen. Ihr letztes Lebensjahr verbrachte sie in einem Sanatorium in Blois.
Die in den Jahren 1929/30 nach Plänen von Cesar Poppovits anstelle eines ehemaligen Vorstadt-Wirtshauses errichtete Wohnhausanlage, 8., Wickenburggasse 15, trägt den Namen Therese-Schlesinger-Hof. Der Schlesingerplatz in der Josefstadt wurde 1901 nach dem christlich-sozialen (und antisemitischen) Reichsratabgeordneten Josef Schlesinger benannt, die Neubenennung nach Therese Schlesinger erfolgte 2006.
Werk: Die Frau im 19. Jahrhundert, 1902; Was wollen die Frauen in der Politik?, 1909; Die geistige Arbeiterin und der Sozialismus, 1919; Wie will und wie soll das Proletariat seine Kinder erziehen?, 1921; Die Frau im sozialdemokratischen Parteiprogramm, 1928.
Literatur: Eva Bock, Therese Schlesinger (1863–1940). Eine Untersuchung über ihr politisches und publizistisches Wirken in der sozialdemokratischen Frauenbewegung, 1987; Birgit Jaindl, Therese Schlesinger, 1994; Edith Prost (Hrsg.), "Die Partei hat mich nie enttäuscht..." Österreichische Sozialdemokratinnen, 1989.