Auf ihrem Parteitag am 3. November 1926 in Linz beschloss die Sozialdemokratische Arbeiterpartei das von Otto Bauer, Max Adler, Karl Renner und anderen verfasste neue Parteiprogramm, das als eines der wichtigsten Dokumente des Austromarxismus gilt.
In der Einleitung heißt es: Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs, gestützt auf die Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus und auf die Erfahrung jahrzehntelanger sieghafter Kämpfe, eng verbunden den sozialistischen Arbeiterparteien aller Nationen, führt den Befreiungskampf der Arbeiterklasse und setzt ihm als Ziel die Überwindung der kapitalistischen, den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung.
Die Partei bekannte sich damit ausdrücklich zum radikalen Umbau des Gesellschaftssystems. Gegliedert in acht Teilbereiche wurden die Aufgaben der Sozialdemokratie definiert. Im Sozialbereich etwa wurde die lückenlose Durchführung des Achtstundentages gefordert, für besonders gesundheitsgefährdende Berufe sogar eine noch weitergehende Arbeitszeitverkürzung.
Im Bereich der Frauenpolitik greift das "Linzer Programm" bereits weit in die Zukunft. Heute mögen die Forderungen nach Aufhebung aller Gesetze, durch die die Frauen rechtlich benachteiligt werden, nach Gleichberechtigung der Frauen im öffentlichen Dienst, nach gemeinsamer Erziehung beider Geschlechter durch beide Geschlechter im öffentlichen Erziehungswesen, nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit und nach Errichtung öffentlicher Tagesheimstätten für schulpflichtige, vorschulpflichtige und Krippenkinder zur Entlastung der berufstätigen Mütter nicht mehr utopisch erscheinen – vollständig umgesetzt wurden sie noch immer nicht.
Weitere zentrale Forderungen des "Linzer Programms" der Sozialdemokratie waren die straffreie und kostenlose Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen, die kostenfreie Abgabe von Verhütungsmitteln, die Unentgeltlichkeit des Unterrichtes, der Lehr-, Lern- und Arbeitsmittel auf allen Unterrichtsstufen, die Begrenzung der Klassenschülerhöchstzahl und die Einheitsschule für alle 6- bis 14-jährigen sowie die Bewertung der Religion als "Privatsache" jedes Einzelnen.
Die Schwäche des "Linzer Programms" war zweifellos sein Lavieren zwischen dem Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie – Die sozialdemokratische Arbeiterpartei wird die Staatsmacht in den Formen der Demokratie und unter allen Bürgschaften der Demokratie ausüben – und einer klassenkämpferischen Rhethorik – Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen, heißt es an anderer Stelle –, die wesentlich zur Verschärfung der ideologischen Gegensätze in Österreich beitrug und den politischen Gegnern ein brauchbares Argument für ihre politische Propaganda lieferte.
Literatur: Helmut Feichter, Das Linzer Programm (1926) der österreichischen Sozialdemokratie, 1975; Josef Hindels, Das Linzer Programm, 1986; Norbert Leser, Das Linzer Programm und der 15. Juli 1927 als Höhepunkte austromarxistischer Politik, 1979.