Wir wissen, dass sich die Macht der besitzenden Klassen zum großen Teil auch auf Bücher stützt. Auch wir wollen uns der Bücher bedienen. Bücher haben uns in die Sklaverei gebracht, Bücher werden uns befreien. Franz Schuhmeier, 1910 anlässlich der Eröffnung der Jugendbibliothek im Arbeiterheim Ottakring.
Die Bildung nahm von Anfang an einen wichtigen Stellenwert in der Arbeiterbewegung ein und die ersten Arbeiterorganisationen organisierten sich in Form von Arbeiterbildungsvereinen. Die Industrialisierung und der Aufstieg des liberalen Bürgertums führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem allgemeinen Bedeutungsanstieg von Wissen und Bildung – und auf dem Gebiet der Volksbildung trafen sich die Interessen des liberalen Bürgertums und der jungen Arbeiterbewegung.
Der 1887 gegründete Wiener Volksbildungsverein schuf bis 1914 ein Büchereisystem mit 27 Zweigstellen, die jährlich zwei Millionen Entlehnungen verzeichneten.
Das Anwachsen der Sozialdemokratie zu einer Massenbewegung und der große Wahlerfolg nach der Einführung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechtes im Jahr 1907 erforderten eine Intensivierung der Bildungsarbeit. 1908 wurde die Zentralstelle für das Bildungswesen mit Robert Danneberg als Sekretär geschaffen. Besonderes Augenmerk wurde auf die Gründung und den Ausbau der Partei- und Gewerkschaftsbibliotheken gelegt.
Dazu wurde eine eigene Bibliothekskommission eingerichtet, deren Leiter Josef Luitpold Stern auch ein Handbuch für Arbeiterbibliothekare verfasste. Sogenannte "Schundliteratur" hatte in Arbeiterbibliotheken nichts zu suchen.
Die Entwicklung der Arbeiterbüchereien erreichte während der Ersten Republik ihren Höhepunkt. In den anlässlich der Arbeiterbildungskonferenz von 1928 beschlossenen Richtlinien "proletarischer Büchereipolitik" wurde das Buch als wesentliches Mittel der Arbeiterbildung anerkannt.
Vor allem in den neu errichteten Gemeindebauten entstanden in architektonisch ansprechenden Lokalen Arbeiterbüchereien, die sich großen Zuspruchs erfreuten; zusätzlich wurden sogar Arbeiterkinderbüchereien eingerichtet. Eine der prachtvollsten Arbeiterbibliothen befand sich in der Wohnhausanlage Sandleiten im 16. Bezirk. Über tausend BibliothekarInnen arbeiteten in diesen Arbeiterbüchereien ehrenamtlich und betrachteten ihre Tätigkeit als Teil ihres politischen Engagements. Im Karl-Marx-Hof etwa war es die Bewohnerin Marie Jahoda, die in ihrer Freizeit als Arbeiterbibliothekarin Dienst versah.
Die Arbeiterkulturbewegung konnte mit Unterstützung der Kommunalpolitik des "Roten Wien" ein Bibliothekswesen errichten, das auch international große Beachtung fand. 1932 wurden in über 60 Arbeiterbüchereien 2,36 Millionen Entlehnungen erfasst.
Die gewaltsame Unterdrückung der Arbeiterbewegung nach dem Februar 1934 setzte diesen Bestrebungen und damit auch dem Arbeiterbüchereiwesen ein jähes Ende.
Die Arbeiterbüchereien wurden 1936 kommunalisiert und nach dem Krieg, der sowohl dem Bücherbestand als auch den Bibliotheken selbst schwer zugesetzt hatte, als Städtische Büchereien neu aufgebaut.
Literatur (Auswahl): Herbert Exenberger, Die Wiener Arbeiterbüchereien. Ihre Geschichte und ihre kulturellen Leistungen im Dienste der Wiener Volksbildung, 1968; ders., Die Arbeiterbüchereien der Stadt Wien nach dem März 1938, 1978; Birgit Nötsch, Eduard Reyer und die Anfänge des Vereins Zentralbibliothek, 1989; Alfred Pfoser, Literatur und Austromarxismus, 1980; Michael Stickler, Die Volksbüchereibewegung in Österreich, 1980.