Jännerstreik 1918

IJ

Bereits in den ersten Monaten des Jahres 1917 kam es in Wien aufgrund der herrschenden Nahrungsmittelknappheit zu mehreren Streiks. Im darauffolgenden Winter spitzte sich die Lage immer mehr zu. Als die Bolschewiken am 7. November in Russland die Macht übernahmen und den Frieden ausriefen, kam es in ganz Europa zu euphorischen Solidaritätskundgebungen. Bei einer Friedensversammlung in Wien wurde am 11.11.
1917 die Parole ausgegeben: Gebt uns den Frieden wieder oder wir legen die Arbeit nieder. Man wollte mit den eigenen Herrschern nötigenfalls auch "russisch reden".

Von Anfang an spielte eine Gruppe von Mitgliedern des Verbandes Jugendlicher Arbeiter, dem Vorläufer der Sozialistischen Jugend, eine wichtige Rolle bei diesen Streikbewegungen. Zentrum der – in hohem Maße illegalen – Agitation gegen den Krieg war das Vereinslokal der Freien Vereinigung sozialistischer Studenten in der Schlösselgasse 11 im 8. Bezirk. Mit Flugblattaktionen versuchten die jungen Aktivisten, die auch Kontakte zu wichtigen Parteifunktionären wie Robert Danneberg und Oskar Helmer unterhielten, die Arbeiter für Aktionen gegen den Krieg zu mobilisieren.

Ihren Höhepunkt fand die explosive Mischung aus sozialer Unzufriedenheit und Kriegsmüdigkeit im sogenannten Jännerstreik, der am 14. Januar 1918 in den Wiener Neustädter Daimler-Motorenwerken wegen der Halbierung der Mehlration ausbrach und sich binnen weniger Tage zur größten Streikaktion in der Geschichte des Landes ausweitete, die nahezu eine Million Arbeiter in fast allen Industriegebieten der Monarchie erfasste.

Die jungen Kriegsgegner in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei sorgten dafür, dass die Streiknachrichten in Wien und im niederösterreichischen Industriegebiet rasch verbreitet werden konnten. Bald forderten die Streikenden nicht mehr bloß eine bessere Versorgung, sondern auch die sofortige Beendigung des Krieges, und in Massenveranstaltungen wurden nach dem Vorbild der russischen Revolution Arbeiterräte gewählt.

Die Regierung unter Ministerpräsident Ernst Seidler sah sich deshalb genötigt, Verhandlungen mit der sozialdemokratischen Parteiführung aufzunehmen, die ihrerseits alle Kräfte aufbieten musste, um bei der Wahl der Arbeiterräte die Kontrolle über ihre Basis nicht zu verlieren. Der sozialdemokratische Parteivorstand selbst verfasste eine Regierungserklärung, die zahlreiche Zugeständnisse an die Streikenden enthielt, darunter auch die Zusicherung, die katastrophale Lebensmittelversorgung zu verbessern und sich um Friedensverhandlungen zu bemühen, und setzte damit am 20. Januar bei einer Sitzung der Arbeiterräte im Eisenbahnerheim Margareten den Abbruch des Streiks durch.

Nach dem Ende des Jännerstreiks wurden die Streikführer und auch zahlreiche Aktivisten aus der Schlösselgasse verhaftet oder zur Armee eingezogen. Der Mann, der für die brillante Formulierung vieler Flugblätter wahrscheinlich verantwortlich war, blieb hingegen unentdeckt – der damalige Oberleutnant, spätere Rotgardist und Meister der sozialen Reportage, der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch.

Literatur: Karl Flanner, Nieder mit dem Krieg! Für sofortigen Frieden! Der große Jännerstreik 1918 in Wiener Neustadt, 1997.