Tandler, Julius

16.2.1869, Iglau/Jihlava (Mähren) – 26.8.1936, Moskau

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Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder. 

Julius Tandler stammte aus relativ ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater war in Iglau als Kaufmann gescheitert, kam mit der Familie 1871 nach Wien und arbeitete hier als Redaktionsdiener. Julius Tandler musste sich das Geld für sein Mittelschul- und Universitätsstudium selbst verdienen. 1895 wurde er zum Doktor der Medizin promoviert, 1899 habilitierte er sich, und 1910 erhielt er den Lehrstuhl für Anatomie an der Universität Wien. Von 1914 bis 1917 war Tandler Dekan der Medizinischen Fakultät.

Julius Tandler war einer jener Ärzte, die den Weltruf der Wiener medizinischen Schule mitbegründeten. Er sah die Aufgabe des Arztes nicht nur im Behandeln, sondern ebenso im Verhindern von Krankheiten. Da er in den sozialen Verhältnissen die Ursache vieler Erkrankungen erkannte, engagierte er sich in sozialen Fragen und kam dadurch in Kontakt mit der Sozialdemokratie, der er sich bereits während des Ersten Weltkriegs anschloss.

1919 wurde Tandler in den Wiener Gemeinderat gewählt. Am 9. Mai 1919 erfolgte seine Bestellung zum Unterstaatssekretär und Leiter des Volksgesundheitsamtes. In dieser Funktion schuf Tandler im Jahr 1920 das Krankenanstaltengesetz und sicherte damit den österreichischen Krankenhäusern, die bis dahin durch wohltätige Fonds finanziert wurden, die Übernahme der Kosten durch Bund, Länder und Gemeinden.

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Im November 1920 wechselte er vom Volksgesundheitsamt zur Stadt Wien, wo er als Amtsführender Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen in den nächsten Jahren mit großem Engagement gegen die z.T. noch kriegsbedingte katastrophale Situation auf dem Gesundheitssektor, gegen Seuchen, Medikamenten- und Ärztemangel, gegen die furchtbaren Folgen von Hunger und Not, unter denen v.a. die Kinder zu leiden hatten, und für den Ausbau der Fürsorge kämpfte.

Ganz besonders engagierte sich Julius Tandler in der Bekämpfung der hohen Säuglingssterblichkeit und der Tuberkulose.

Diese Krankheit war vor dem Ersten Weltkrieg in Wien so verbreitet, dass sie international als "Wiener Krankheit" bekannt war. Noch 1923 war die Tuberkulose die Ursache für 13,4% aller Sterbefälle in Wien und damit die häufigste Todesursache. In der kurzen Zeit bis 1932 konnte diese Zahl immerhin auf 9,3% gesenkt werden.

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Gemeinsam mit dem Chirurgen Leopold Schönbauer (1888–1963) errichtete Tandler darüber hinaus die erste Krebsberatungsstelle in Wien; als dritte Stadt der Welt kaufte Wien fünf Gramm Radium zur Bestrahlung von Krebspatienten im Krankenhaus Lainz, das sich in Tandlers Amtszeit zu einem Zentrum der medizinischen Forschung und gleichzeitig zu einem der größten Alterspflegeheime Europas entwickelte.

Soziale Hilfe wurde unter Tandlers Amtszeit von einer nach Gutdünken gewährten Gnade zum Recht für alle, die sie brauchten, und Tandlers Sozialpolitik wurde weltweit zum Vorbild. Im Wien der Zwischenkriegszeit entstand ein dichtes Netz von Kindergärten und Kinderhorten, die Kinderübernahmsstelle als zentrale Drehscheibe für in Not geratene Kinder, Mutterberatungsstellen und Schulzahnkliniken – alles Einrichtungen, wie es sie in dieser Art und Dichte sonst nirgendwo gab.

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Tandler führte 1927 das kostenlose Säuglingswäschepaket bei gleichzeitiger gesundheitlicher Kontrolle der werdenden Mütter ein – kein Wiener Kind sollte auf Zeitungspapier geboren werden – und trug maßgeblich dazu bei, dass die städtischen Gartenanlagen von 1921 bis 1932 von knapp 2 auf 3,3 Millionen Quadratmeter wuchsen.

Neugeschaffen wurden u.a. der Waldmüller-, der Währinger-, der Haydn-, der Schubert-, der Strauß-Lanner-, der Kongress-, der Herder-, der Wasser-, der Modena- und der Wettsteinpark.

Das Amalienbad wurde als erstes repräsentatives Volksbad errichtet, dazu das Kongressbad, das Ottakringer Bad, das Stadionbad und insgesamt 23 Kinderfreibäder. Außerdem wurde eine Reihe von Sportplätzen errichtet, darunter auch das Praterstadion.

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Die beträchtlichen Geldmittel, die die Errichtung dieser sozialen Einrichtungen verlangten, wurden mit Hilfe von Stadtrat Hugo Breitner, der Tandler scherzhaft seinen "teuersten Freund" nannte, auf mitunter ungewöhnliche Weise aufgetrieben. Breitner führte eine zunächst zwei-, dann vierprozentige "Fürsorgeabgabe" ein.

Mit der ihm eigenen Art verteidigte Breitner die Einhebung dieser Steuern: Mit den Einnahmen aus den Nachtlokalen und Bars bestreite er die Kosten für das tägliche Mittagessen für 13.000 Schulkinder, beim Pferderennen bezahlten die Wettenden die Säuglingswäsche für die Neugeborenen und das Entbindungsheim im Brigittaspital finanziere er durch die Abgaben der Wiener Stundenhotels...

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Neben der politischen Arbeit fand Tandler auch noch Zeit und Kraft für seine wissenschaftliche Tätigkeit. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen, darunter ein vierbändiges "Lehrbuch der systematischen Anatomie".

Gegen Ende der 1920er Jahre mehrten sich allerdings die gewaltsamen Störungen seiner Vorlesungen durch rechtsstehende Studenten, die Tandler wegen seines Engagements im "Roten Wien" und wegen seiner jüdischen Herkunft diffamierten.

In den frühen 1930er Jahren wirkte Julius Tandler auch im Rahmen der Hygiene-Sektion des Völkerbundes mit, der Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen.

1933 erbat Tandler Urlaub, um einer wissenschaftlichen Berufung nach China zu folgen. Als er in China vom Ausbruch der Februarkämpfe erfuhr, kehrte er sofort nach Wien zurück, wo er von den Austrofaschisten vorübergehend verhaftet wurde und schließlich sogar seine Professur verlor.

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Tief verletzt verließ er Österreich, kehrte zunächst nach China zurück und folgte dann einer Einladung der Sowjetunion, um an der Reform des dortigen Gesundheitswesens beratend mitzuwirken. Tandler starb in Moskau, bevor er diese letzte Arbeit in Angriff nehmen konnte. Sein Leichnam wurde mit dem Zug nach Wien gebracht und am 8. September eingeäschert.

Julius Tandler wohnte von 1907 bis zu seiner Emigration im Jahr 1934 in der Beethovengasse 8 am Alsergrund.

Der Julius-Tandler-Platz (seit 1949, vorher Althanplatz) und das Julius-Tandler-Heim, beide ebenfalls im 9. Bezirk gelegen, wurden ebenso nach ihm benannt, wie das Julius Tandler-Studentenheim, 19., Billrothstraße 9. 

Anlässlich des 80. Todestages von Julius Tandler widmete der Waschsalon Karl-Marx-Hof dem Arzt, Wissenschafter und Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen 2016/17 eine Sonderausstellung. 

Werk: Das Kind im Wachsen und Werden, 1912; Anatomie des Herzens, 1913; Die biologischen Grundlagen der sekundären Geschlechtscharaktere, 1913; Lehrbuch der systematischen Anatomie, 4 Bände, 1918-29; Ehe und Bevölkerungspolitik, 1924; Wohltätigkeit oder Fürsorge?, 1925; Das Wohlfahrtsamt der Stadt Wien, 1931.
LiteraturWolfgang Maderthaner, Hugo Breitner, Julius Tandler. Architekten des Roten Wien, 1997; Karl Sablik, Julius Tandler. Mediziner und Sozialreformer, 1983.