Entnazifizierung

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Nach der militärischen Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945 stand Österreich vor der Frage, wie mit den ehemaligen Nationalsozialisten umzugehen sei. Die Provisorische Staatsregierung Renner erließ noch am selben Tag ein Gesetz zum Verbot der NSDAP und aller ihr angeschlossenen Organisationen ("Verbots- und Kriegsverbrechergesetz"). Alle Personen, die zwischen dem 1.7.1933 und dem 27.4.1945 Mitglied der NSDAP oder eines ihrer Verbände waren, mussten sich registrieren lassen und waren vom Wahlrecht bei den Nationalratswahlen am 25. November 1945 ausgeschlossen.

1946 beschloss der Nationalrat das "Nationalsozialistengesetz", das die registrierten 524.000 Nationalsozialisten in drei Gruppen einteilte: in Kriegsverbrecher oder gerichtlich zu verfolgende Personen, in belastete (höhere NS-Funktionäre) und in minderbelastete Nationalsozialisten (kleinere Funktionäre und einfache Parteimitglieder).

Über Kriegsverbrecher verhängten Volksgerichte bis 1955 insgesamt 43 Todesurteile und 34 lebenslängliche Haftstrafen. Die etwa 480.000 Minderbelasteten hatten u.a. Sühneabgaben zu leisten; 170.000 Personen wurden – zum Teil nur vorübergehend – aus dem öffentlichen Dienst, aber auch aus privaten Unternehmen entlassen.

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ÖVP und SPÖ versuchten schon früh, bei den alliierten Besatzungsmächten eine Lockerung der Bestimmungen für die sogenannten "Mitläufer" zu erreichen, von denen viele nur "aus Sorge um die Existenz" oder um eines persönlichen Vorteils willen der NSDAP beigetreten waren. Hauptargumente für die baldige Pardonnierung der "Minderbelasteten" war der Bedarf an Fachkräften für den Wiederaufbau, aber auch das verständliche Bemühen um nationale Versöhnung und Reintegration. Natürlich ging es beiden großen Parteien auch um das nicht unbedeutende Reservoir an Wählerstimmen.

1948 verabschiedete der Nationalrat schließlich eine Amnestie für die "Minderbelasteten", die damit bei den Nationalratswahlen von 1949 wieder stimmberechtigt waren.

Zugleich ermöglichte man die Kandidatur des "Verbandes der Unabhängigen" (VdU) – Vorgängerpartei der FPÖ –, der vehement gegen das Nationalsozialismusgesetz auftrat und sich in der Folge zum wichtigsten Sammelbecken des "nationalen Lagers" in Österreich entwickelte.

Viele Belastete wurden in den Folgejahren durch den Bundespräsidenten begnadigt; 1957 erfolgte eine generelle Amnestie. Insgesamt wird oft moniert, dass die Entnazifizierung – speziell in Österreich – nur sehr halbherzig vollzogen wurde. Das Land pflegte seinen Opfermythos auch in der politischen und juristischen Praxis, und der kurz darauf ausgebrochene "Kalte Krieg" mit Österreichs Sonderstellung zwischen den Blöcken begünstigte diese Vorgehensweise.

Im Januar 2005 präsentierte der BSA das Buch "Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des Bundes Sozialdemokratischer AkademikerInnen, Intellektueller und KünstlerInnen bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten", das eine entsprechende Studie von Wolfgang Neugebauer und Peter Schwarz vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) enthält. BSA-Präsident Caspar Einem, der die Studie in Auftrag gegeben hatte, sprach von einem "schmerzhaften Klärungsprozess", der aber notwendig sei, "damit Wunden heilen können".

Literatur: Hellmut Butterweck, Verurteilt und begnadigt. Österreich und seine NS-Straftäter, 2003; Sebastian Meissl (Hrsg.), Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955, 1986; Dimitra Reimüller, Entnazifizierung in Österreich, 1988; Walter Schuster und Wolfgang Weber (Hrsg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, 2004; Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, 1981. Wolfgang Neugebauer, Der Wille zum aufrechten Gang, 2005.