
Karl Renner wuchs als eines von 17 Kindern einer Bauernfamilie auf, studierte in Wien Rechtswissenschaften und erhielt 1895 eine Anstellung in der Parlamentsbibliothek. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits engen Kontakt zu führenden Persönlichkeiten der Sozialdemokratie, v.a. zu Engelbert Pernerstorfer, und wurde Mitbegründer der "touristischen Gruppe" der Naturfreunde, deren erstes Vereinsabzeichen er auch entwarf.
Ab 1899 veröffentlichte Renner zahlreiche politische Schriften, wobei er als Staatsbeamter meist Pseudonyme, wie etwa "Synopticus", "Joseph Karner" oder "Rudolf Springer" verwenden musste. Sein besonderes Interesse galt Fragen der Sozialpolitik sowie der nationalen Frage, in der er als Verfechter einer föderalistischen Neuordnung der österreichisch-ungarischen Monarchie hervortrat.

Als Leiter der österreichischen Delegation bei den Friedensverhandlungen von St. Germain musste Renner die harten Bedingungen der Westmächte akzeptieren.
Renner führte die Regierung bis zum Ende der Koalition im Jahr 1920. Danach war er bis 1923 und anschließend wieder von 1931 bis 1933 Präsident des Nationalrates, dem er von 1930 bis 1934 auch als Abgeordneter angehörte.
Innerhalb der Partei widmete sich Karl Renner hauptsächlich wirtschaftlichen Aufgaben, v.a. in den Konsumgenossenschaften und in der 1922 gegründeten Arbeiterbank, deren Initiator und Präsident er war. Im Parteivorstand galt Renner stets als ein Exponent des "rechten Flügels".

Als die Rote Armee im April 1945 auch Gloggnitz besetzte, nahm Renner sofort Kontakt mit der sowjetischen Kommandantur auf. Angeblich soll Stalin persönlich entschieden haben, dass Karl Renner mit der Wiederherstellung eines selbständigen Staates Österreich betraut werden sollte.
Am 20. April 1945 kam Renner nach Wien, wo die drei wieder begründeten Parteien im Wiener Rathaus bereits eine neue Stadtverwaltung gebildet hatten. In der sowjetischen Kommandantur in der Kantgasse führte Renner ein erstes Gespräch mit Adolf Schärf; wenig später begannen die Verhandlungen mit den Vertretern der drei Parteien über die Bildung einer provisorischen Regierung. Diese Verhandlungen erwiesen sich schon deshalb als schwierig, da die Kommunisten mehrere Schlüsselpositionen verlangten.
Renner fand eine Kompromissformel und wurde – wie schon 1918 – Staatskanzler; dabei stand ihm ein "Politischer Beirat" mit drei Staatssekretären (Schärf, Kunschak, Koplenig) zur Seite.
Die neue Regierung wurde am 27. April gebildet und noch am selben Tag von den Sowjets anerkannt. Ihr Wirkungsbereich umfasste zu diesem Zeitpunkt außer Wien allerdings nur das östliche Niederösterreich, den Großteil des Burgenlandes und einen Teil der Steiermark – im Westen wurde noch gekämpft.
Die wichtigste Aufgabe Karl Renners bestand nun darin, die Anerkennung seiner Regierung durch die Westmächte und die demokratischen Kräfte in den westlichen Bundesländern zu erlangen. Mitte September stimmte der Alliierte Rat, das gemeinsame Organ der vier Besatzungsmächte, einer "Länderkonferenz" zu, in der Vertreter aller Bundesländer mit der Provisorischen Regierung verhandeln sollten. Diese Konferenz tagte am 24. und 25. September in Wien; in der Folge wurde die Regierung Renner als gesamtösterreichisch anerkannt und um Vertreter der westlichen Bundesländer erweitert.

Es war das persönliche Verdienst Karl Renners, dass in Österreich als erstem befreiten Land in Europa bereits Ende November 1945 landesweite demokratische Wahlen abgehalten werden konnten.
Am 20. Dezember 1945 wurde Karl Renner von der Bundesversammlung – dem neugewählten Nationalrat und dem Bundesrat – einstimmig zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt.
Als Bundespräsident war Renner in den Jahren 1945 bis 1950 eine Integrationsfigur und ein ständiger Mahner zu Zusammenarbeit, Erhaltung der Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Wiedererlangung der Souveränität.
Im Oktober 1949 erschien im Londoner "Observer" ein Artikel, der Renners Wirken sehr treffend charakterisiert:
Er schien gerade der Mann zu sein, den die Russen benötigten: alt, sehr alt, sehr beliebt, lange nicht mehr in Berührung mit der praktischen Politik, eine Verbindung mit der Vergangenheit, eine respektable Fassade für eine Volksfront-Regierung, die rasch von einigen jungen, energischen Kommunisten erobert werden würde. Aber diesmal hatten die Russen den falschen Mann ausgewählt. Renner war mild, freundlich und verbindlich, auch bereit, einige Ministerposten den Kommunisten zu überlassen, aber durchaus befähigt, die Zügel in den eigenen Händen zu behalten.
Am Haus Praterstraße 8 weist eine Gedenktafel darauf hin, dass Karl Renner von 1918 bis 1934 hier wohnte.


Werk (teilweise unter den Pseudonymen Synopticus oder Rudolf Springer): Staat und Nation, 1899; Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat, 1902; Grundlagen und Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen Monarchie, 1906; Der deutsche Arbeiter und der Nationalismus. Untersuchungen über die Größe und Macht der deutschen Nation in Oesterreich und das nationale Programm der Sozialdemokratie, 1910; Was ist die nationale Autonomie? Was ist soziale Verwaltung?, 1913; Österreichs Erneuerung, 3 Bände, 1916; Marxismus, Krieg und Internationale, 1917; Das Bankkapital, seine Entwicklung und seine Funktion, 1926; Karl Kautsky. Skizze zur Geschichte der geistigen und politischen Entwicklung der deutschen Arbeiterklasse, 1929; An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen, 1946; Die neue Welt und der Sozialismus. Einsichten und Ausblicke des lebenden Marxismus, 1946; Lyrisch-soziale Dichtungen, 1950; Nachgelassene Werke, 3 Bände, 1952–53; Das Weltbild der Moderne, 1954; Schriften. Hrsg. und mit ein Nachwort von Anton Pelinka, 1994.
Literatur: Ludwig Adamovich, Dr. Karl Renner als Wissenschaftler, 1951; Christian Dickinger, Österreichs Präsidenten. Von Karl Renner bis Thomas Klestil, 2000; Rudolf Exner, Reformistische Konzeptionen in der Zwischenkriegszeit. Ein Vergleich der Theorien Eduard Heimanns und Karl Renners, 1982; Franz Josef Feichtenberger, Die Länderkonferenzen 1945. Die Wiedererrichtung der Republik Österreich, 1965; Heinz Fischer (Hrsg.), Karl Renner. Porträt einer Evolution, 1970; Helmut Konrad (Hrsg.), Arbeiterbewegung und Nationale Frage in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, 1993; Helmut Konrad (Hrsg.), Sozialdemokratie und "Anschluß". Historische Wurzeln, Anschluß 1918 und 1938, Nachwirkungen, 1978; Tommaso La Rocca (Hrsg.), Karl Renner. Politik und Religion, 2004; Wolfgang Maderthaner, Karl Renner 1870–1950, 2000; Siegfried Nasko, Karl Renner. Zwischen Anschluss und Europa, 2000; Anton Pelinka, Karl Renner zur Einführung, 1989; Hans Schroth, Karl Renner, 1970 .