Im Zeichen der rothen Laterne (Textauszug)

Max Winter

W

Auf der Station der Rettungsgesellschaften wird ein merkwürdiges Buch geführt: Das "Simulantenbuch". Es enthält Namen und Adressen aller derjenigen, die so verelendet sind, dass sie ihren Lebensunterhalt dadurch erwerben, Anfälle von Epilepsie auf der Straße zu heucheln. Sie rechnen mit dem Mitleid der Vorübergehenden, die solchen armen Teufeln einige Kreuzer in den Hut werfen. Das treibt der Mann, bis der Rettungswagen in Sicht ist. Dann läuft er davon, oder sein "Anfall" ist vorüber. Es mag ein Gradmesser für das Elend sein, dass zirka hundert Arme zu diesem Erwerbszweig in Wien Zuflucht nahmen, um sich durchs Leben zu schlagen. Trauriges Brot!

[...]

Wehleidigkeit und Simulation war auch die Diagnose, die ein anderer Arzt bei einer zweiten Ausfahrt stellen musste. "Mutter und Kind überfahren." So hatte die Meldung gelautet. Der "große Rettungskasten" wurde mobil gemacht, und fort ging's. Als der Wagen vor einer Möbelniederlage auf der Mariahilferstraße hielt, wo die "Ver letzten" einstweilen untergebracht worden waren, harrte schon eine große Menschenmenge des Kommenden. Die Mutter saß schreiend auf einem Sessel in einer Tapeziererwerkstätte. Das Kind neben ihr auf einer Kiste. "Na, wo fehlt's denn?" fragte der Arzt. Die Frau, ein armes Maurerweib, die mit ihrem unehelichen Kind in Favoriten zu Bett ist, wies auf das Armgelenk. Der Doktor untersucht und findet nichts. Er drückt, und nun empfindet die Frau im Ellbogengelenk Schmerz. Der Arzt untersucht dort, findet wieder nichts, und so wird der "Schmerz" endlich ins Handgelenk verlegt. So wechselt der Schmerz, ohne dass der Frau etwas gebrochen oder verrenkt wäre. Dabei schreit sie fortwährend furchtbar. Das Kind ist heil. Der ganze Unfall reduzirt sich auf eine leichte Kontusion. Der Arzt macht der Frau einen "Beruhigungsverband", lässt einen Einspänner holen und schickt Frau und Kind nach Hause. Das Kind, ein lieber Bauxel, hat inzwischen Kaffee bekommen und ist glücklich über das "Glück" des Unfalls. In dem Fall hätte eine ganz andere Rettunsgesellschaft eingreifen müssen, um der hungernden Proletarierin zu helfen.

Aus: Im Zeichen der rothen Laterne. Ein Tag bei der Rettungsgesellschaft, Arbeiter-Zeitung Nr. 355 vom 25.12.1896.