Auszüge aus Vranitzkys Rede vor der Hebräischen Universität Jerusalem

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Dies ist der erste Besuch eines österreichischen Regierungschefs im Staat Israel, und es ist auch mein erster Aufenthalt in Jerusalem. Ich muss gestehen, dass jeder Augenblick dieses Besuchs, ob im friedlichen Rosengarten oder in den belebten Straßen der Altstadt, in der ernsten Stille in Yad Vashem oder vor der hochaufragenden Klage mauer von tiefsten, zeitweise sehr beunruhigenden Emotionen gekennzeichnet war. 

Diese Emotionen hängen mit der engen Verbundenheit zusammen, die viele Österreicher für Israel empfinden, noch mehr aber mit den Tragödien unserer gemeinsamen Vergangenheit. An dieser historischen Stätte auf dem Scopus-Berg, der Wiege akademischer Studien im modernen Israel, finde ich es angebracht, einige bescheidene klärende Worte über Österreich und die dunklen Jahre zwischen 1934 und 1945 zu sagen. 

Am Ende des Ersten Weltkrieges war Österreich zerstückelt, seines industriellen Hinterlandes und seiner multikulturellen Identität beraubt. Verarmt und ohne Hoffnung wurden viele Österreicher zu Nazis und unterstützten den Anschluss, der Österreich von der Landkarte gelöscht hat. 

Wir müssen der Katastrophe ins Auge schauen, die von der Nazi-Diktatur über mein Land gebracht wurde: Hundert tausende Österreicher, viele von ihnen Juden, wurden in Gefängnisse und Konzentrationslager geworfen, kamen in den Nazi-Schlachthäusern um oder wurden gezwungen zu fliehen und alles zurückzulassen – Opfer einer degenerierten Ideologie und des totalitären Strebens nach Macht. Viele weitere Österreicher starben auf dem Schlachtfeld und in den Bombenschutzräumen. 

Es gab jene, die mutig genug waren, dem Wahnsinn aktiv Widerstand zu leisten oder versuchten, den Opfern zu helfen und dabei ihr eigenes Leben riskierten. Aber viel mehr gliederten sich in die Nazi-Maschinerie ein, einige stiegen in ihr auf und gehörten zu den brutalsten und scheußlichsten Übeltätern. 

Wir müssen mit dieser Seite unserer Geschichte leben, mit unserem Anteil an der Verantwortung für das Leid, das nicht von Österreich – der Staat existierte nicht mehr –, sondern von einigen seiner Bürger anderen Menschen und der Menschheit zugefügt wurde. Wir haben immer empfunden und empfinden noch immer, dass der Begriff "Kollektivschuld" auf Österreich nicht anzuwenden ist. Aber wir anerkennen kollektive Verantwortung, Verantwortung für jeden von uns, sich zu erinnern und Gerechtigkeit zu suchen. 

Wir teilen die moralische Verantwortung, weil viele Österreicher den Anschluss begrüßten, das Naziregime unterstützten und bei seinem Funktionieren halfen. Wir dürfen jene nicht vergessen, die unaussprechliche Schicksale erlitten, wir dürfen jene nicht vergessen, die dieses Leiden verursachten, und wir dürfen jene nicht vergessen, die Widerstand leisteten. 

Wir bekennen uns zu allem, was in unserer Geschichte geschehen ist und zu den guten und schlechten Taten aller Österreicher. So wie wir für unsere guten Taten Kredit fordern, müssen wir für unsere schlechten um Verzeihung bitten – um die Verzeihung jener, die überlebt haben, und um die Verzeihung der Nachfahren der Opfer. 

Diese moralische Verantwortung wiegt doppelt für Österreich, da uns bewusst ist, wieviel von uns selbst, von unserem Leben und unserer Kultur im Feuersturm der Nazi-Barbarei zerstört worden ist. Vieles von dem, worauf Österreich heute so stolz ist, von Sigmund Freud bis Gustav Mahler, von Arnold Schönberg bis Ludwig Wittgenstein, von Karl Kraus bis Theodor Herzl, von Stefan Zweig bis Viktor Adler, ist Teil des österreichischen Erbes. Indem wir unseren Teil der kollektiven Verantwortung tragen, würdigen wir dieses Erbe, beanspruchen wir es als Teil unserer Geschichte. 

Ich bin hier, um ein neues, modernes und selbstbewusstes Land, einen unabhängigen und demokratischen Staat zu repräsentieren, der als "Antithese zum Nazismus" gegründet worden ist. In der Tat waren die meisten Gründungsväter der Zweiten Republik Überlebende der Konzentrationslager und Gefängnisse des Dritten Reiches. 

Das ist einer der Gründe dafür, dass die Moskauer Deklaration von 1943, in der Österreich zum ersten Opfer der Naziaggression erklärt wurde, lange die Erkenntnis und das Eingeständnis der dunkleren Seite unserer Geschichte blockieren konnte. 

Dies könnte auch einer der Gründe dafür sein, dass es so viele Missverständnisse über Österreichs Hilfeleistungen für die Opfer des Holocaust gibt. Österreich hat über Jahre hinweg enorme finanzielle Anstrengungen mit diesem Ziel unternommen. Diese Anstrengungen erschienen aber oft zu spät, zu zaghaft und zu bruchstückhaft, als ob man ein schlechtes Gewissen verbergen wolle. 

In den letzten Jahren wurde viel unternommen, um dem abzuhelfen; und Österreich wird weiter bestrebt sein, die Lücken zu schließen, sei es durch das österreichische Sozialversicherungssystem oder direkt über jüdische Organisa tionen in Österreich und im Ausland. 

Wir wissen, dass all die tragischen Verluste, das Leiden und der Schmerz nicht ungeschehen gemacht werden können. Was wir jedoch abgesehen von materiellen und finanziellen Leistungen tun können, ist, allen jenen ein warmes und aufrichtiges Willkommen zurück in Österreich anzubieten, die aus dem Lande vertrieben worden sind und die keine österreichische Regierung der Nachkriegszeit zur Heimkehr aufgefordert hat. Eine kürzliche Änderung der einschlägigen Gesetze ermöglicht zum Beispiel den Nazi-Opfern die Rückgewinnung der österreichischen Staatsbürgerschaft ohne Aufgabe der gegenwärtigen und ohne Erfordernis eines ständigen Wohnsitzes in Österreich. 

Eine weitere Initiative betrifft ein Österreich-Besuchsprogramm für Emigranten, deren Kinder und Enkel. Wir laden sie alle ein zu kommen, um ein demokratisches, soziales und weltoffenes Land wiederzuentdecken, das seine Lektionen aus der Geschichte gelernt hat. 

Quelle: Der Standard, 11. 6. 1993, S. 35.