Teuerungsunruhen vom 17. September 1911

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Schlechte Ernten und hohe Weltmarktpreise für Lebensmittel hatten 1909 und 1910 zu enormen Preissteigerungen für Brot und andere Nahrungsmittel geführt. Der Mehlpreis war von 26 auf 48 Heller gestiegen, und Fleisch war für die arbeitenden Menschen praktisch unerschwinglich geworden. Im Spätsommer 1911 verschärfte sich die Krise weiter, und so kam es am 17. September 1911 zu einer Massenkundgebung auf der Wiener Ringstraße und vor dem Rathaus, an der laut Polizeibericht etwa 36.000 Menschen teilnahmen.

Von mehreren Tribünen sprachen sozialdemokratische Führer – u.a. Franz Schuhmeier und Albert Sever – aber auch Gewerkschaftsfunktionäre und Delegierte aus den anderssprachigen Teilen der Monarchie zu der Menge. Die Kundgebung verlief zunächst in völliger Ruhe und Ordnung. Als die einzelnen Bezirkszüge gegen 13 Uhr abzumarschieren begannen, wurde die Polizei nervös, drängte auf die rasche Räumung des Platzes und sperrte die Zugänge zur Innenstadt.

Vor dem späteren Gebäude des Stadtschulrates, damals Sitz des Verwaltungsgerichtshofes, fiel plötzlich ein Schuss. Es konnte niemals geklärt werden, wer geschossen hatte. Die Menge glaubte jedenfalls, dass aus dem Haus auf sie geschossen wurde; einige Fensterscheiben gingen zu Bruch, und auch gegen die Rathausfenster flogen nun Steine. Die Polizei ging daraufhin scharf gegen die Demonstranten vor; die Menge wurde in die Burggasse und die Lerchenfelder Straße, dann weiter in die Thaliastraße gedrängt, es gab die ersten Verletzten.

Das weitere Geschehen schilderte Albert Sever anlässlich des 20. Jahrestages der Unruhen in der Arbeiter-Zeitung vom 13. September 1931: 

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Die Gablenzgasse herauf werden die Genossen verfolgt, die Umgebung des Arbeiterheimes ist voll vom Militär. Zur Verstärkung wurde aus der Radetzkykaserne eine Kompagnie des polnischen Militärregiments Nr. 24 herangezogen. Der erste Verletzte, der ins Arbeiterheim gebracht wurde, war der Genosse Afra mit einem Lungendurchschuss. 
Eben als die Kompagnie des Infanterieregiments Nr. 24 gegen das Arbeiterheim heranrückte, ging der Genosse Otto Prötzenberger über den unverbauten Platz gegenüber dem Arbeiterheim. Er wurde von den Soldaten erreicht, ein Bajonettstich brachte ihn zum Wanken. Er sank in die Knie, raffte sich aber dann noch auf und lief in das Kaffeehaus des Arbeiterheims. Hier stürzte er am Kassiertisch zusammen. In wenigen Minuten war er tot. Es galt nun, um die Menge nicht weiter aufzureizen, den Tod Prötzenbergers zu verschweigen. Die Rettungsgesellschaft wurde angerufen, und entgegen ihren Vorschriften nahm sie den toten Prötzenberger mit ins Sophienspital. Niemand wurde gesagt, dass er schon tot ist, sonst wären die Arbeiter wohl kaum zu halten gewesen. 

Der nächste Blutzeuge war der Genosse Franz Joachimsthaler, der einen Bauchschuss erhielt und gleichfalls ins Sophienspital gebracht wurde. Drei Tage später ist er gestorben. Am Abend vor seinem Tod ließ er mich rufen und erkundigte sich um die Lage im Bezirk. 
Ganz unbeteiligt kam Franz Wögerbauer zu einem Säbelhieb. Er kam aus dem Gasthof Lederer in der Herbststraße, als eine Kavalleriepatrouille über die Straße sprengte und ihm einer der Reiter, die blind um sich schlugen, mit einem Hieb den Kopf spaltete. Nach furchtbaren Qualen ist er acht Tage später gestorben. Dann wurde es Abend, das Arbeiterheim war von Militär, hauptsächlich Bosniaken, von der Außenwelt vollkommen ausgesperrt. Die Straßen lagen im Dunkel, weil fast alle Gaslaternen zerschlagen worden waren. Da und dort war das Gas angezündet, so dass die offenen blauen Gasflammen die Nacht durchleuchteten. Noch in der Nacht wurde eine Sitzung der Parteileitung abgehalten. In der Früh des Montag mussten wir in die größeren Betriebe, um die Vertrauensmänner zu beschwören, dass sie die Arbeiter in den Betrieben halten, damit nicht noch größeres Unglück geschehe. Es waren furchtbare Stunden und Tage, die wir damals durchlebten. 

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Außer diesen drei Toten gab es mehr als 90 Verletzte. Über 200 Personen wurden verhaftet und in den darauf folgenden Prozessen zu insgesamt 120 Jahren schweren Kerkers verurteilt.

Die Teuerungsunruhen hatten drei Wochen später, am 5. Oktober 1911, noch ein aufsehenerregendes parlamentarisches Nachspiel. Schon im Vorfeld kam es wegen der Schließung der tschechischsprachigen Komensky-Schulen in Wien zu einer Schlägerei zwischen deutsch- und tschechischnationalen Abgeordneten.

Erstredner zum Tagesordnungspunkt "Teuerungskrawalle" war Victor Adler, der Justizminister Hochenburger für die Eskalation der Ereignisse verantwortlich machte. In diesem Augenblick schrie jemand von der Galerie "Hoch der Sozialismus" – und gleichzeitig krachten Schüsse durch das Parlament. Der Täter, der 24jährige arbeitslose Tischlergeselle Nikola Njegos, konnte rasch überwältigt werden. Es zeigte sich, dass die Minister Hochenburger (Justiz) und Stürgkh (Unterricht) nur knapp dem Tode entronnen waren. Njegos hatte viermal gefeuert, ehe die Waffe Ladehemmung hatte. Ein fünftes Geschoss wurde aus der Kammer geschleudert und fiel auf die Prominentengalerie im unteren Stockwerk, direkt in den Schoss von Emma Adler, der Frau des Redners. Njegos wurde wegen des Attentats zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt und starb während der Haft.

Am Ottakringer Friedhof erinnert ein von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei gestiftetes Grabmonument in Gruppe 13 an die drei Opfer der Teuerungsrevolte, der Joachimsthaler­platz wurde 1928 nach Franz Joachimsthaler benannt.

Literatur: Gegen die Teuerung! Gegen die Klassenjustiz! Der Teuerungsantrag der Sozialdemokraten. Die Urteile gegen die Teuerungsdemonstranten. Die Rede des Abgeordneten Dr. Viktor Adler am 5. Oktober 1911. Aus dem stenographischen Protokoll des Abgeordnetenhaus, 1911.