Kinderübernahmsstelle

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In den Jahren 1923 bis 1925 ließ der Stadtrat für Wohlfahrtswesen, Julius Tandler, im Rahmen des Wohlfahrtsprogramms der Gemeinde Wien in der Lustkandlgasse 50 im 9. Bezirk die erste Kinderübernahmsstelle Europas errichten. Die Eröffnung fand am 18. Juni 1925 statt.

Die Kinderübernahmsstelle war die zentrale Drehscheibe für in Not geratene, zumeist verwaiste oder verwahrloste Kinder, die für kürzere oder längere Zeit in Gemeindepflege übernommen werden mussten, kümmerte sich um ihre medizinische Versorgung und, falls notwendig, um ihre Überweisung in Pflege- und Erziehungsanstalten (z.B. im Kinderheim Wilhelminenberg) oder um die Vermittlung zu Pflegeeltern.
 
Da kommt eine Mutter mit ihrem Neugeborenen, weil sie obdachlos ist, dort eine andere, weil der Vater ein Säufer ist, eine dritte, weil der Mann arbeitslos ist […] kurz: die ganze bedrängte kleine Menschheit drängt tagaus, tagein in die Kinderübernahmestelle [sic!]. Ein furchtbares Bild des Kinderelends, ein schreckliches Wahrzeichen der kapitalistischen Gesellschaft!, so Julius Tandler.
 
1925 etwa wurden 6.229 Kinder überstellt, 2.169 von ihnen wegen Mittellosigkeit und Arbeitslosigkeit der Eltern, 1.260 wegen Obdachlosigkeit. Weitere Gründe waren Verwaistheit, Spitalsaufenthalt der Eltern, Verwahrlosung und Rückstellung aus Pflegestellen.
 
Zwischen 1925 und 1934 betreute die Institution insgesamt 63.000 Kinder und Jugendliche. Die Kinder wurden untersucht, gewaschen und eingekleidet, um dann – je nach Alter – auf einer der sechs Stationen zwei bis drei Wochen von Ärzten und Psychologen beobachtet und aufgrund von deren Beurteilung weitergeleitet zu werden. Die Leitung der psychologischen Arbeit in der Kinderübernahmsstelle lag bei der renommierten Kinderpsychologin Charlotte Bühler.

Seit den 1960er Jahren lag der Schwerpunkt mehr auf der psychologischen Betreuung der Jugendlichen und im Bemühen, in familienähnlichen Kleingruppen eine Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen zu erzielen.

Die frühere Kinderübernahmestelle – das heutige Julius-Tandler-Heim – gehört zu den Einrichtungen der MA 10 - Wiener Kindergärten. Außerdem hat hier die Volkshochschule ihren Sitz.