Den Sohn des jüdischen Textilfabrikanten Philipp Bauer dürften die nach außen hin glänzenden sozialen Verhältnisse seines Elternhauses stark geprägt haben. Der Vater galt als kränkelnder Lebemann, die Mutter flüchtete sich in Ordnungsliebe, und die um ein Jahr jüngere Schwester Ida wurde eine bekannte Hysterie-Patientin Sigmund Freunds.
Schon als Kind beobachtete Otto Bauer die Produktionsverhältnisse in der väterlichen Textilfabrik, befasste sich bereits mit 15 Jahren mit dem Schriften von Karl Marx und hielt darüber Vorträge im Kreise seiner Mitschüler. Angezogen von den humanistischen Idealen des Sozialismus wurde er 1900 Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs. 1903 begann Otto Bauer an der Wiener Universität Geschichte, Sprachen, Nationalökonomie, Soziologie, Philosophie und – auf Wunsch seines Vaters – Jurisprudenz zu studieren; 1906 promovierte er zum Doktor der Rechte.
Während seiner Studienzeit schloss Bauer sich der Freien Vereinigung sozialistischer Studenten und dem "Sozialwissenschaftlichen Bildungsverein" an. Hier lernte er unter anderem Karl Renner, Friedrich Adler, Max Adler und Rudolf Hilferding kennen, mit denen er gemeinsam den Verein "Zukunft", eine Arbeiterschule, ins Leben rief.
Nachdem es der österreichischen Sozialdemokratie bei den Wahlen im Mai 1907 erstmals gelungen war, als stärkste politische Kraft mit 87 von 510 Mandaten in den Reichstag einzuziehen, beauftragte Victor Adler Otto Bauer mit der Errichtung und Leitung eines Klubsekretariates. In dieser Funktion war Otto Bauer an der Ausarbeitung wichtiger Gesetze beteiligt; darüber hinaus übernahm er auch die Redaktionsleitung der neu gegründeten Monatszeitschrift Der Kampf und wurde Redaktionsmitglied der Arbeiter-Zeitung.
Dieses Werk bildete auch die Grundlage für die Positionierung Otto Bauers als Exponent der spezifisch österreichischen Linie des Marxismus, die als Austromarxismus weltweit bekannt werden sollte.
1914 wurde Otto Bauer zum Militär einberufen und kam als Offizier an die russische Front. In Kriegsgefangenschaft geraten, verbrachte er beinahe drei Jahre in einem sibirischen Lager, lernte Russisch und verfasste 1916 die philosophische Abhandlung "Das Weltbild des Kapitalismus", die 1924 erstmals veröffentlicht wurde. Nach Ausbruch der russischen Revolution wurde Otto Bauer als "Austauschgefangener" freigelassen, kehrte nach Wien zurück und avancierte hier zum engsten Mitarbeiter des Parteivorsitzenden Victor Adler.
Während Karl Renner den Umbau der Monarchie in einen Bundesstaat der Nationalitäten forderte, sah Otto Bauer dafür keine Chance mehr. Der Krieg und die russische Revolution hätten die Autonomiebestrebungen der slawischen Völker vorangetrieben, und eine Niederlage Österreichs würde den Abfall der Nationen bewirken.
Aufgabe der Sozialdemokratie sei deshalb die Vorbereitung der kommenden Revolution. Mit zunehmender Kriegsdauer und der immer lauter werdenden Forderung der Slawen nach eigenen Nationalstaaten setzte sich die Linie Otto Bauers und seiner Freunde – Max Adler, Robert Danneberg, Gabriele Proft, Therese Schlesinger, Paul Richter u.a. – schließlich durch. Im Frühjahr 1918 wurde das "Nationalitätenprogramm der Linken" formuliert.
Als Victor Adler nach Kriegsende zum Staatssekretär für Äußeres berufen wurde, holte er Otto Bauer als seinen Präsidialchef. Nach dem plötzlichen Tod Adlers am 11. November 1918 wurde Bauer provisorisch mit der Leitung des Außenamtes betraut. In dieser Funktion setzte er sich vehement für den – damals im übrigen von allen Parteien geforderten – Anschluss an Deutschland ein, der von vielen als die einzige Chance für die Zukunft angesehen wurde.
Nachdem die Anschlussidee jedoch am Widerspruch der Siegermächte, allen voran Frankreichs, gescheitert war, legte Bauer am 27. Juli 1919 die Leitung des Außenamtes zurück, blieb jedoch noch bis Oktober 1919 als Staatssekretär für Sozialisierung Mitglied der Regierung. Seine Bemühungen, wichtige Bereiche der Wirtschaft zu nationalisieren, scheiterten allerdings am Widerstand der bürgerlichen Kräfte.
Nach seinem Ausscheiden aus der Regierung wurde Bauer zum wichtigsten Sprecher der Sozialdemokraten im Parlament und, als zweiter Parteivorsitzender neben Karl Seitz, zum beliebtesten Redner und angesehensten Publizisten der Partei, der auch regelmäßig an der Arbeiterhochschule unterrichtete und hunderte Zeitungsartikel sowie etliche Bücher und Broschüren verfasste.
An der Arbeiterhochschule unterrichtete übrigens auch Otto Bauers langjährige Mitarbeiterin Helene Bauer, die er 1920 geheiratet hatte.
Bauer schrieb ungefähr eineinhalb Stunden an seinem Artikel, meist mit der Hand, manchmal diktierte er ein druckreifes Manuskript. Dann öffnete er die Tür seines Zimmers, aus dem die Rauchschwaden von vielleicht zwanzig Zigaretten quollen, die er inzwischen geraucht hatte. Nun begann für ihn sozusagen das gesellschaftliche Leben. Er ging zu Austerlitz in dessen Zimmer und sprach mit ihm über Politik, Literatur, über interne Parteifragen und anderes […] Gegen zwölf oder halb ein Uhr nachts erhielt er die Korrekturen seines Artikels […] Danach ließ er sich die deutschen, französischen und englischen Blätter bringen, die er bis etwa zwei Uhr las. Dann war für ihn der Arbeitstag beendet. Um acht Uhr früh begann er wieder. (Otto Leichter, Otto Bauer. Tragödie oder Triumph, 1970)
Am 3. November 1926 beschloss die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs auf ihrem Linzer Parteitag das von Otto Bauer vorbereitete Programm, das zu diesem Zeitpunkt als das bedeutendste Dokument des "demokratischen Sozialismus" galt. Obwohl das Linzer Programm bereits einen stark defensiven Charakter besaß, trug der in ihm enthaltene Passus von der "Diktatur der Arbeiterklasse" wesentlich zur Verschärfung der ideologischen Gegensätze in der Ersten Republik bei.
Otto Bauer hatte zudem maßgeblichen Anteil am Zustandekommen der Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal". 1931 plante Paul Felix Lazarsfeld eine Studie über "Freizeitverhalten". Otto Bauer fand dieses Vorhaben angesichts der Massenarbeitslosigkeit jedoch "albern" und regte seinerseits eine wissenschaftliche Studie über das Phänomen der Arbeitslosigkeit an. Er hat uns sogar Marienthal als den Ort, wo die Untersuchung gemacht werden soll, vorgeschlagen. (Robert Knight, Interview mit Marie Jahoda am 28. August 1985)
Nach der Niederlage des sozialdemokratischen Schutzbundes gegen das autoritäre Dollfuß-Regime im Februar 1934 floh Otto Bauer in die Tschechoslowakei, wo er in Brno (Brünn) das Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten (ALÖS) aufbaute, das v.a. die Arbeiter-Zeitung und die Monatsschrift Der Kampf produzierte, die anschließend illegal in Österreich verbreitet wurden. Die erste Nummer der illegalen Arbeiter-Zeitung erschien übrigens bereits am 25. Februar 1934, nahezu im Alleingang geschrieben von Otto Bauer.
Im März 1938 kam Otto Bauer nach Brüssel, wo er mit Friedrich Adler und dem aus Österreich geflüchteten Vorsitzenden der Revolutionären Sozialisten, Joseph Buttinger, zusammentraf. Man einigte sich auf die Auflösung des ALÖS und des Parteipräsidiums der Revolutionären Sozialisten und die Zusammenfassung dieser Gremien zur Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten (AVOES).
Am 4. Juli 1938 – kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, den er als Produkt des Faschismus vorhergesehen hatte – erlag Otto Bauer in Paris einem Herzinfarkt. Sein Leichnam wurde zunächst auf dem Pariser Friedhof "Père Lachaise" gegenüber des Denkmals für die Kämpfer der Pariser Kommune von 1871 beigesetzt.
Am 11. Februar 1948 traf die Urne Otto Bauers in Wien ein und wurde vom Parteivorstand in das Vorwärtshaus geleitet, wo sie den gesamten Tag über im Sitzungssaal aufgebahrt war. Tags darauf, am 12. Februar 1948, wurde vor dem Parteihaus eine Trauerfeier abgehalten, danach die Urne zur feierlichen Bestattung auf den Zentralfriedhof gebracht. In dem, 1926 von Hubert Gessner geschaffenen Ehrengrab sind darüber hinaus auch Otto Bauers Frau Helene Bauer, Victor Adler und Friedrich Adler, Engelbert Pernerstorfer und Karl Seitz bestattet.
Heute erinnert eine Otto-Bauer-Büste in der Leopoldsgasse 6 im 2. Bezirk ebenso an den führenden Theoretiker der österreichischen Sozialdemokratie wie die 1949 nach ihm benannte Otto-Bauer-Gasse in Mariahilf, wo Bauer in der damaligen Kasernengasse 2 wohnte. 1958 eröffnete die Wiener SPÖ im Otto-Bauer-Heim, 14., Rosentalgasse 11, ein Bildungszentrum, das bis 1969 bestand.
2012 richteten Oberösterreichs Sozialdemokraten – als Bindeglied zwischen praktischer Politik und wissenschaftlicher Forschung – das Marie Jahoda - Otto Bauer Institut ein.
Werk (Auswahl): Die Sozialisierungsaktion im ersten Jahre der Republik, 1919; Der Weg zum Sozialismus, 1919; Bolschewismus oder Sozialdemokratie, 1920; Die österreichische Revolution, 1923; Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, 1924; Der Kampf um Wald und Weide, 1925; Sozialdemokratische Agrarpolitik, 1926; Sozialdemokratie, Religion und Kirche, 1927; Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg, 1931; Der Aufstand der österreichischen Arbeiter. Seine Ursachen und seine Wirkungen, 1934/1974; Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus, 1936; Die illegale Partei, 1939; Die Wahrheit über den Februar 1934, 1945; Faschismus und Kapitalismus, 1967; Austromarxismus. Texte zu "Ideologie und Klassenkampf", 1970; Der Kampf um Wald und Weide, Neuauflage mit einer Einleitung von Lisa Francesca Rail, 2024.
Literatur: Detlev Albers, Otto Bauer und der "dritte" Weg, 1979; ders., Versuch über Otto Bauer und Antonio Gramsci, 1983; ders., Otto Bauer – Theorie und Politik, 1985; Hermann Böhm, Theorie und Praxis des Austromarxismus bei Otto Bauer, 1976; ders., Die Tragödie des Austromarxismus am Beispiel von Otto Bauer, 2000; Julius Braunthal, Otto Bauer, 1961; Erich Fröschl, Otto Bauer – Theorie und Praxis, 1985; Ernst Hanisch, Der große Illusionist: Otto Bauer (1881-1938), 2011; Gabriele Kaltenbrunner, Die politische Theorie Otto Bauers und ihre Umsetzung in die Praxis anhand von Beispielen, 1992; Horst Klein, Otto Bauers Gesellschaftsidee für eine bessere Welt, 1994; Béla Kun, Otto Bauers Weg, 1934; Otto Leichter, Otto Bauer. Tragödie oder Triumph, 1970; Raimund Löw, Otto Bauer und die russische Revolution, 1980; Wolfgang Maderthaner, Otto Bauer zum 60. Todestag, 1998.