Neurath, Otto

10.12.1882, Wien – 22.12.1945, Oxford (GB)

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Otto Neurath war der Sohn des Nationalökonomen Wilhelm Neurath, studierte in Wien und Berlin und unterrichtete ab 1907 Volkswirtschaft an der Neuen Wiener Handelsakademie. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs unternahm er als Stipendiat der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden ausgedehnte Studienreisen in mehrere Balkanländer. 1918 habilitierte er sich an Max Webers berühmtem Institut für Soziologie in Heidelberg. Im Revolutionsjahr 1919 leitete Neurath das Zentralwirtschaftsamt der ersten Münchner Räterepublik; nach deren Niederschlagung wurde er wegen "Beihilfe zum Hochverrat" inhaftiert und schließlich nach Österreich ausgeliefert. Größter Wermutstropfen: Der Verlust seiner Lehrbefugnis in Heidelberg.

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In Wien wurde Otto Neurath bald zu einem der wichtigsten Köpfe der sozialdemokratischen Bildungs- und Gesellschaftspolitik. 1920 übernahm er das Amt des Generalsekretärs des Österreichischen Verbandes für Siedlungs- und Kleingartenwesen.

1924/25 gründete er das Österreichische Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien und begann mit der Entwicklung der "Wiener Methode der Bildstatistik" – zunächst in verschiedenen Auftragsarbeiten für Sozialversicherungsträger.

Neuraths berühmte Mengenbilder und Kartogramme kamen bald in Zeitschriften, Ausstellungen und an zahlreichen internationalen Schauplätzen zum Einsatz, so auch beim Wohnungs- und Städtebaukongress 1928 in Paris, bei der Internationalen Ausstellung für Wohnungs- und Städtebau 1931 in Berlin und der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1931 in Dresden. Seit 1927 wurde die bildhafte Pädagogik auch in Wiener Schulversuchen eingesetzt.

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1932 gründeten Neurath und seine Mitarbeiter das "Mundaneum Institut" in Den Haag und die "International Foundation for Visual Education"; die Idee, die Arbeit in der Emigration fortzusetzen, nahm damals bereits konkrete Gestalt an. Die Ereignisse von 1934 überraschten Neurath in Moskau. Gemeinsam mit seinem Team emigrierte er nach Holland und organisierte von dort aus die Bewegung der "International Unity of Science".

Die gemeinsam mit dem Grafiker Gerd Arntz perfektionierte Wiener Methode der Bildstatistik wurde nun in "International System of Typographic Picture Education" (Isotype) umbenannt. 1936 erschien Neuraths Werk "International Picture Language" in London. Von hier trat die "Isotype-Technik" ihren Siegeszug in die USA an.

Nach der Invasion der Niederlande im Jahr 1940 gelang Neurath im letzten Augenblick die Flucht nach Großbritannien, wo er zunächst in einem Internierungslager landete. Durch Vermittlung britischer Kollegen und anderer Emigranten, darunter auch Albert Einstein, kam Neurath 1941 frei und erhielt die Einladung, Vorlesungen über Logischen Empirismus und Sozialwissenschaften an der Universität Oxford zu halten.

Otto Neurath ist einer jener österreichischen Wissenschaftler, die im Ausland wesentlich bekannter sind, als in ihrer Heimat. Aus der von ihm initiierten Bildstatistik entwickelte sich die internationale Zeichen- und Symbolsprache, ohne der z.B. die Leitsysteme in U-Bahnen, Flughäfen, aber auch Verkehrszeichen usw. nicht mehr denkbar sind. Allerdings ging es Otto Neurath nicht um die bloß effektiver gestaltete öffentliche Kommunikation, sondern um die Möglichkeiten des Wissenstransfers unter weitgehendem Verzicht auf die Sprache mit ihren kulturell bedingten Übersetzungsschwierigkeiten und Zweideutigkeiten, kurz um interkulturelle "Werkzeuge fürs Denken".

Die Dr.-Otto-Neurath-Gasse im 22. Bezirk wurde 1949 nach dem Gelehrten benannt. Seit Anfang 2024 erinnert eine Gedenktafel am Haydnhof an Otto Neurath, der von 1930 bis zu seiner Flucht vor der politischen Verfolgung im Austrofaschismus 1934 hier wohnte.

Werk: Antike Wirtschaftsgeschichte, 1909; Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre, 1910; Die Wirtschaftsordnung der Zukunft und die Wirtschaftswissenschaften, 1917; Lebensgestaltung und Klassenkampf, 1928; Empirische Soziologie. Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und Nationalökonomie, 1931; Modern man in the making, 1939; Foundations of the social sciences, 1944; Encyclopedia and unified science, 1947.
Literatur: Ursula Apitzsch (Hrsg.), Neurath – Gramsci – Williams, Theorien der Arbeiterkultur und ihre Wirkung, 1993; Nancy Cartwright, Otto Neurath: philosophy between science and politics, 1996; R. Haller und Robin Kinross (Hrsg.), Otto Neurath: Gesammelte bildpädagogische Schriften, 1991; Frank Hartmann und Erwin K. Bauer, Bildersprache. Otto Neurath – Visualisierungen, 2002; Elisabeth Nemeth und Richard Heinrich (Hrsg.), Otto Neurath. Rationalität, Planung, Vielfalt, 1999; Marie Neurath und Robert S. Cohen, Otto Neurath: Empiricism and Sociology, 1973; Günther Sandner, Otto Neurath. Eine politische Biografie, 2014; Friedrich Stadler (Hrsg.), Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit: Otto Neurath – Gerd Arntz, 1982; Horst-Christian Stöckler, Otto Neuraths Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum und die Wiener Bildstatistik 1925– 1934, 1989; Thomas E. Uebel, Otto Neurath und der Wiener Kreis im Diskurs der Moderne, 1999; Gloria Withalm (Hrsg.), Neurath. Zeichen, 1996; Birgit Ziegler, Rationale Lebensgestaltung. Architektur, Wiener Kreis und Bauhaus; mit besonderer Berücksichtigung von Otto Neurath und Hannes Meyer, 1998.