Bis man mir Scherben auf die Augen legt (Textauszug)

Manès Sperber

S

... am Freitag, den 11. März, abends, trat das vorausgesehene und dennoch für die meisten Betroffenen unwahrscheinliche Ereignis ein: Österreich fiel, es fiel Hitler zu. Ich blieb lange Stunden vor dem Radioapparat, es war eine jener Nächte, da man mit überwachem Sinn wahrnimmt, wie das ins Maßlose wachsende Unglück auf allen Wegen unaufhaltsam näher kommt und wie jenen, die ihm entfliehen müßten, kaum noch ein Pfad offen bleibt. Als ich spät nach Mitternacht dem "Sieg-Heil", das aus dem Lautsprecher in mein Zimmer drang, ein Ende machte, beherrschte mich die Furcht für die Meinen, meine Familie und meine Freunde. Ich wusste nicht, ob ich die Kraft aufbringen würde, mich zu erheben. Ich hoffte auf den Schlaf und das Vergessen, doch fürchtete ich ihn, denn ich durfte ja nicht vergessen. Jetzt war ich heimatlos, mein Exil vervielfachte sich in jenen Stunden. Und das Gefühl der Hilflosigkeit wurde abgrundlos – die bedrängende Empfindung, sofort helfen zu müssen, und die täglich wiederholte Erfahrung, daß man ins Leere greift, da die Antwort auf die Hilferufe ungehört und jeden falls ohne Wirkung bleibt. In diesem mit offenen Augen geträumten Alptraum ist die Welt entzweigespalten: Ursachen überall, nirgends die erstrebte Wirkung.

Auch das gehörte zur widerspruchsvollen Logik meines Lebens: Ich liebte eine Stadt, deren Bewohner sich singend und grölend ihres goldenen Herzens rühmten und zugleich auf ihren hemmungslosen Judenhaß stolz waren. Es war vorauszusehen, daß die Nazis da leichter als in irgendeiner deutschen Stadt zahllose eifrige Komplizen finden würden, um Juden zu erniedrigen, und niederträchtige Schergen für die Konzentrationslager und später für die Vernichtungslager.

Aus: Bis man mir Scherben auf die Augen legt. All das Vergangene..., dtv 1982.