Die Arbeitslosen von Marienthal

Marienthal_head_zeiselagsoe

D

1930 musste die Textilfabrik in Marienthal südlich von Wien infolge der Wirtschaftskrise schließen, aus 1.300 ArbeiterInnen wurden mit einem Schlag 1.300 Arbeitslose.

Der Zeit geschuldet und auf Anregung Otto Bauers plante Paul Felix Lazarsfeld eine wissenschaftliche Studie über das Phänomen der Arbeitslosigkeit. Den entscheidenden Anstoß zur Wahl Marienthals als "Forschungsobjekt" gab wahrscheinlich eine Reportage Ludwig Wagners im Kleinen Blatt.

Finanziert wurde das Projekt der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle mit Geldern der Kammer für Arbeiter und Angestellte, vor allem aber der Rockefeller Foundation, die Karl und Charlotte Bühler verwalteten. Durchgeführt wurde die Studie von einem 15 Personen umfassenden Team, unter ihnen Paul Felix Lazarsfeld, Marie Jahoda, Hans Zeisel, Lotte Schenk-Danzinger, Ludwig Wagner, Gertrude WagnerKarl Hartl, Walter Wodak und Marie Deutsch-Kramer.


Wegweisend an der Marienthal-Studie war die Kombination der angewandten Methoden, von denen viele erst im Laufe der Erhebungen entwickelt wurden. Das Forscherteam erstellte Statistiken und legte Katasterblätter an, führte Befragungen durch und notierte Lebensläufe, maß – auf Anregung von Hans Zeisel, der auch fotografierte – Gehgeschwindigkeiten, analysierte Schulaufsätze und Zeitverwendungsbögen.

Und: Den WissenschaflerInnen war es wichtig, nicht bloß die Rolle von Beobachtern einzunehmen. So wurden zum Beispiel auch ein Schnittzeichenkurs und ein Turnkurs für Mädchen durchgeführt; es gab kostenlose ärztliche Beratung und Behandlung sowie Beratungsangebote in Fragen der Erziehung und Haushaltsführung.

Der Großteil der Erhebungen geht auf Lotte Schenk-Danzinger zurück, die in ihrer Funktion als Leiterin der Winterhilfsaktion engen Kontakt zur Bevölkerung pflegte.

Wir haben ausführliche Lebensgeschichten von 32 Männern und 30 Frauen aufgenommen. Deren Bedeutung liegt vor allem darin, daß über ganze Lebensläufe berichtet wurde. […] würde man unmittelbar nach der Arbeitslosigkeit fragen, so wäre verlegenes Schweigen oder wären Redensarten die häufigste Antwort, heißt es in der Studie.

Aus den ebenfalls publizierten Tabellen geht hervor, dass "Weihnachtstage statt Freude und Überraschung – Enttäuschung" brachten. So erhielten 18 von 100 Kindern in den Orten der Umgebung "mehr als gewünscht", in Marienthal nur elf. "Weniger als gewünscht" bekamen 38 Kinder aus der Umgebung, in Marienthal waren es 69.
Die Feldforschung dauerte bis Mai 1932, die Auswertung des Materials erfolgte im Frühsommer in der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle. Im Sommer zog sich Marie Jahoda mit dem Material in die Berge zurück und verfasste dort innerhalb weniger Wochen den Haupttext der Studie. Die literarische Qualität des Textes ist Jahodas Verdienst.

Die Studie erschien 1933 in einem Leipziger Verlag, Autoren wurden auf dem Titelblatt keine genannt. Erst die Neuausgabe im Jahr 1960 machte sie einem größeren Leserkreis zugänglich. Und mit der englischsprachigen Ausgabe 1971 wurde "Die Arbeitslosen von Marienthal" endgültig zum Klassiker der empirischen Sozialforschung.

Auch die an der Studie beteiligten WissenschaftlerInnen – unter ihnen Paul F. Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel – machten großteils erst nach dem Zweiten Weltkrieg im Exil Karriere.

Der Großteil der Gebäude in Marienthal wurde bereits nach der Schließung der Fabrik abgetragen. Das baufällige Gebäude des Consum-Vereins musste 2008 abgerissen werden.

Ein Jahr später wurde es weitgehend originalgetreu wiedererrichtet; 2011 zog hier das von der Marktgemeinde Gramatneusiedl eingerichtete und vom Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich gestaltete Museum Marienthal ein.

2013/14 zeigte der Waschsalon Karl-Marx-Hof in Kooperation mit dem Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich AGSÖ eine Ausstellung über die Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal". 

Literatur: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch, 1933; Reinhard Müller, Erinnerungen an Marienthal. Gertrude Wagner im Gespräch mit Christian Fleck, 1984; ders., Erinnerungen an Marienthal. Marie Jahoda im Gespräch mit Christian Fleck, 1987; ders., Erinnerungen an Marienthal. Lotte Schenk-Danzinger im Gespräch mit Christian Fleck, 1988; ders., Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie. Innsbruck–Wien–Bozen 2008; ders., Mythos Marienthal. Blicke auf die Fabrik, die Arbeiterkultur und die Arbeitslosen. Innsbruck–Wien–Bozen 2010.